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Stumme Zeugen dörflichen Lebens

Maschinelle Modernisierung der Landwirtschaft verdrängte Heuerlingshäuser

Kreis Minden-Lübbecke (ök). Sie haben eine lange Entwicklungsgeschichte von nahezu 200 Jahren hinter sich, werden heute hier und da noch unter die Obhut der Heimatvereine genommen oder gelegentlich originalgetreu in Museumsdörfern gezeigt: die Heuerlingshäuser, stumme Zeugen des dörflichen Miteinanders einer heute fast schon vergessenen Zeit.

Noch nach dem 2. Weltkrieg demonstrierten sie hierzulande, was sie seit Anfang des 19. Jahrhunderts waren: Wohnhäuser für eine »unterbäuerliche Schicht«, wie uns ein Ortsheimatpfleger anläßlich eines Besuches eines naturgetreu wieder aufgebauten Heuerlingshauses wissen lässt, unweit der bäuerlichen Höfe errichtet und mit ständig abrufbereiten Menschen als Mieter belegt. Erst die rasante, maschinelle Modernisierung der landwirtschaftlichen Betriebe nach dem Krieg veränderte - vornehmlich in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts - das bis dahin über Generationen bestandene Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Bauern und ihren Heuerlingen.
Das abrufbereite Arbeitsverhältnis, zu dem sich der Heuerling bis dahin verpflichtet hatte, und für das er gegen geringes Entgelt in den meist im Fachwerkstil des 19. Jahrhunderts errichteten Haus mit seiner Familie wohnen durfte, machte alsbald echten Mietverhältnissen Platz. Die früher für die Bauern zur Bewältigung vornehmlich der Erntearbeiten unverzichtbare Mitarbeit der Heuerlingsfamilien war ab Mitte der 50er Jahre plötzlich so nicht mehr notwendig. Zudem standen die herangewachsenen »jungen Heuerlinge«, geboren in den 20er und 30er Jahren, inzwischen in anderen Arbeitsverhältnissen als ihre Väter, Großväter und Urgroßväter. Für erntebedingte Abwesenheiten zeigten ihre Arbeitgeber wenig Verständnis. Über Generationen gewachsene Bindungen zwischen Bauern und Heuerlingen mussten zwangsläufig den veränderten Gegebenheiten angepaßt werden.
Hinzu kam noch, dass viele ehemalige Bewohner der Heuerlingshäuser aufgrund der staatlichen Förderung von Wohneigentum mit ihrer Familie erstmals jetzt in der Lage waren, ein eigenes Haus zu bauen. Sie wechselten sozusagen über Nacht von der »sozialen Unterschicht« hinüber in die Schicht derer, die zu diesem Zeitpunkt schon Eigentum hatten, und die die Heuerlinge bis dahin oft als ärmliche und wegen ihrer konstanten Abhängigkeit von ihrem eigentlichen »Arbeitgeber«, dem Bauern, manchmal auch als bedauernswerte Menschen zweiter Klasse betrachtet hatten.
Eine noch in den ersten Jahren der Nachkriegszeit nie vermutete Umschichtung bestehender Verhältnisse mit alsbald sichtbaren negativen Folgen für die Eigentümer der Heuerlingshäuser - die Bauern - war die Folge. Niemand wollte mehr in den bis zu diesem Zeitpunkt gegenüber den Bewohnern früherer Generationen kaum veränderten Häusern wohnen. Sozusagen »hautnah« mit dem Vieh unter einem, nur durch die Deele getrennten Bereich hausen, wie noch zu Vaters, Großvaters und Urgroßvaters Zeiten üblich, oder gar bei Wind und Wetter zum Klo über den Hof rennen - was bis dahin bei Heuerlingshäusern durchaus nicht üblich war - war bei den jungen, heranwachsenden Mitgliedern der Heuerlinge mit einem Schlage verpöhnt.
Die eigene Viehhaltung, für den Heuerling früherer Generationen durch das vom Bauern zur Verfügung gestellte Land möglich und für das Überleben seiner Familie auch durchaus notwendig, verlor überall hierzulande - soweit es sich nicht um echte landwirtschaftliche Betriebe handelte - mehr und mehr an Bedeutung. Kleine, bis dahin den Heuerlingshäusern zugedachte Flächen, mussten die Eigentümer wieder selbst bewirtschaften. Die jetzt zunehmend leer stehenden Heuerlingshäuser wurden wegen Fehlens finanzieller Mittel oft dem Verfall preisgeben, gelegentlich auch zu nutzbaren Scheunen umfunktioniert oder sie wurden abgerissen.
Wer von den Bauern, deren Einkommensverhältnisse sich gegenüber früher bekanntermaßen aufgrund veränderter Marktverhältnisse verschlechtert hatten, dazu in der Lage war, baute die ehemaligen Heuerlingshäuser mit erheblichem Kostenaufwand zu Wohnhäusern um, die den Ansprüchen der heranwachsenden neuen Mietergeneration genügte. Auf diese Weise blieb - zumindest nach außen - bei vielen ehemaligen Heuerlingshäusern der schmucke Fachwerk-Baustil vergangener Zeiten erhalten.
Dem beherzten Eingreifen vieler Heimatvereine ist es zu danken, dass durch die von ihnen mit erheblichem Kostenaufwand und enormer Eigenleistung originalgetreu hergerichteten Heuerlingshäuser unterschiedlichster Bauweise der primitive Wohnstil ihrer einstigen Bewohner nachfolgenden Generationen wieder deutlich gemacht werden kann. Kaum jemand kann sich heute noch vorstellen, dass damals Mensch und Tier hier auf besonders engem Raum zusammenlebten und bei der Vielzahl der oftmals vorhandenen Kinder manche von ihnen nicht selten auf dem Dachboden oder in kleinen, von der Deele abgetrennten, in unmittelbarer Nähe des Viehs gelegenen Schlafstätten die Nacht verbringen mussten. Zustände, die alles andere als hygenisch waren. Die damals grassierende Tuberkuloseerkrankungen mit hoher Sterblichkeit sprechen eine deutliche Sprache. Dennoch bleibt festzuhalten: So lebte man damals in den Heuerlingshäusern als »Mieter auf Abruf« mit seiner Familie. Dass die Verbindung zwischen Mensch und Tier in allen überwiegend landwirtschaftlich genutzten Häusern relativ eng war, ist unbestritten. Festzuhalten bleibt aber, dass in den meist räumlich klein gestalteten Heuerlingshäusern hier der Platzmangel besonders groß war. Die damals gängige plattdeutsche Redewendung »Hei wurn't nur in'n Hüsken« (Er wohnt nur im Häuschen) macht deutlich, daß dies auch von den Mitbürgern so gesehen wurde. Dass man übrigens früher der übernommenen Verpflichtung, auf Abruf zur Arbeit bereitzustehen, als Heuerling gerecht werden konnte, machte die im 19. und bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hierzulande in Blüte stehende Zigarrenindustrie möglich, deren Arbeiterinnen und Arbeiter in Heimarbeit - zu denen überwiegend die Heuerlinge gehörten - durchaus in der Lage waren, ihren landwirtschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Entscheidend für den Arbeitgeber war, dass das übernommene »Mindestsoll« an Zigarren zum Ablieferungstag erfüllt wurde. Das Einspannen aller Familienmitglieder - auch der Kinder - machte dies trotz der von den Heuerlingen zu leistenden Arbeit auf den Bauernhöfen dennoch möglich. Heute gehören Heuerlinge mit zementierten Abhängigkeitsverhältnissen Gott sei Dank der Vergangenheit an. Ihre kargen Wohn- und Einkommensverhältnisse sind Geschichte.
Eine Geschichte, die in vielen Fällen erst vor gut 50 Jahren endete und bis dahin das Leben vieler Generationen von Heuerlingen im dörflichen Miteinander hierzulande unverwechselbar geprägt hat.

Artikel vom 08.02.2007