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Wenn die Kirmeswagen Pause haben

Schaustellerfamilie Lüdtke hat auch im Winter viel zu tun - Sohn Renaldo lernt mit LARS

Von Dunja Henkenjohann
Werther (WB). Besinnliche Tage im Advent sind für Renaldo ebenso eine Seltenheit wie das Eiersuchen zu Ostern oder ein Urlaub in den Sommerferien. »Feierabend« hat die Schaustellerfamilie Lüdtke nur zwischen 22. Dezember und Ende Februar. Und sogar dann kehrt keine richtige Ruhe ein.

Inventuren, Reparaturen oder TÜV: Auch in der kirmesfreien Zeit haben Schausteller alle Hände voll zu tun. Claudia und Jörg Lüdtke sind von Februar bis Dezember mit ihren Schmuckwagen, Kinderkarussells und Hüpfburgen auf Kirmesveranstaltungen und Weihnachtsmärkten in Nord- und Mitteldeutschland unterwegs, oft sogar auf unterschiedlichen Veranstaltungen. Das Bett ihres Wohnwagens kennen sie fast besser als das ihres Einfamilienhauses in Werther.
Derzeit »entrümpelt« die Familie ihre Wagen. Weihnachtsmützen verschwinden bis Dezember in Kartons, stattdessen werden neue Accessoires ausgepackt. Und während Claudia Lüdtke für die Feinarbeit, wie beispielsweise die Inventur zuständig ist, packen »ihre Männer« kräftig an: Ein Verkaufswagen bekommt eine neue Hydraulik, Schrauben werden angezogen oder Wagenteile gestrichen.
In der kirmesfreien Zeit werden Verträge für die Veranstaltungen in Frühjahr, Sommer und den Herbst geschlossen oder Versicherungen bezahlt. »Im Januar und Februar müssen wir viel zahlen, haben aber keine Einnahmen«, sagt Jörg Lüdtke und betont, dass er als Schausteller viele Berufe habe: Kaufmann, Spediteur, Elektriker, Verkäufer. Man müsse alles können, denn » junge Männer zum Mitreisen« seien immer schwieriger zu finden.
Der gebürtige Haller ist mit dem Kirmestrubel aufgewachsen: Sein Onkel verkauft Reibekuchen, sein Bruder Schmuck. Auch für Claudia Lüdtke dreht sich das Leben um Kirmes und Karussells, seit sie denken kann: »Meine Großmutter hatte bereits einen Schmuckstand«, erzählt die Tochter des Wertheraner Schaustellers Usmar »Carlo« Carles.
Im Hause Lüdtke ist es normal, dass man Weihnachten nicht gemeinsam feiern kann, weil sich irgendein Familienmitglied noch in einer Ecke Deutschlands tummelt, um dort beim Christkindlmarkt zwischen Weihnachten und Silvester die letzten Euros des Jahres einzustreichen. »Zu Geburtstagen singen wir am Telefon«, schmunzelt Claudia Lüdtke und freut sich Jahr für Jahr auf das Schützenfest in Hannover. »Dort sind wir alle zusammen«, sagt sie. Doch Zeit füreinander bleibe trotzdem kaum.
Und so ist auch Sohnemann Renaldo ein echtes Kirmeskind, fühlt sich auf dem Oldenburger Kramermarkt oder der Soester Allerheiligenkirmes fast mehr zuhause als in der Böckstiegelstadt. In seiner Heimat besucht der 15-Jährige die Hauptschule Jöllenbeck. Doch oft reist er mit seinen Eltern mit, macht es sich im eigenen Wohnwagen auf 2,50 mal 3,30 Meter inklusive Bad und Dusche gemütlich. Und damit Renaldo Lüdtke schulisch immer am Ball bleibt, nimmt er zusätzlich am virtuellen Programm »LARS: Lernen auf Reisen-Schule« der Bezirksregierung teil.
Außerdem besucht der 15-Jährige auf Reisen die Schulen vor Ort. Probleme, in den Klassen nicht akzeptiert zu werden, kenne er nicht, sagt Renaldo. »Die anderen Schaustellerkinder fahren ja auch zweigleisig.« Jörg Lüdtke hält es trotz des Lebens im Wohnwagen für wichtig, den Kontakt zur Heimat nicht zu verlieren.
»Man muss auch die Freunde in Werther pflegen - nicht nur, damit man im Rentenalter nicht allein ist«, weiß der 38-jährige. Diesen Grundsatz gibt er auch seinem Sohn mit auf dem Weg, denn für den 15-Jährigen steht der Berufswunsch schon fest: Er will Schausteller werden.

Artikel vom 27.01.2007