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Die Angst vor der Kälte

Für 60 Reisende ist am Gütersloher Hauptbahnhof Endstation

Von Michael Delker
Gütersloh (WB). Es ist eine unendlich lange Nacht für die 60 Menschen, die nach dem Orkan »Kyrill« am Gütersloher Bahnhof gestrandet sind. Nur wenige finden Schlaf, den meistens Menschen bleibt nur eins: Warten auf den Moment, bis der Albtraum vorbei ist.

Eine Odyssee hat Gisela Abdul-Nabi hinter sich. Die ältere Dame lebt in Kuwait und ist derzeit bei ihrer Schwester in Mönchengladbach zu Besuch. Am Donnerstagmorgen war sie mit dem Zug in Richtung Norden gestartet, weil sie eine Verabredung in Rinteln hatte. Endstation ist um kurz vor 14 Uhr bei Vlotho. »Dort lag ein Baum auf der Bahnstrecke«, berichtet Gisela Abdul-Nabi. Zweieinhalb Stunden später geht die Fahrt weiter - sie entschließt sich zur Rückreise, da sie ihren Termin verpasst hat. Als der Zug nach 17 Uhr im Gütersloher Hauptbahnhof einläuft, wird ihre Reise erneut unterbrochen. Bahnchef Mehdorn stoppt den Verkehr bundesweit wegen der Orkanschäden. Für Gisela Abdul-Nabi und die anderen Reisenden beginnt eine Geduldsprobe.
Gegen 23 Uhr sitzt sie in der Eingangshalle auf der Bank einer Bierzeltgarnitur. »Soll ich mich aufregen?«, fragt Gisela Abdul-Nabi, »es kann doch niemand etwas dafür. Ich würde gerne wieder in den Zug, doch ich habe Angst vor der Kälte.« Die Temperaturen sind der Grund dafür, warum die 40 freiwilligen Helfer der DRK-Ortsverbände Verl, Schloß Holte, Harsewinkel, Rietberg und die Malteser die Wartenden gegen 3 Uhr nachts aus den Zügen holen. »Eine reine Vorsichtsmaßnahme, die Menschen sollen nicht auskühlen«, berichtet Christian Schumacher vom DRK Verl. Er ist der Modulführer des so genannten Betreuungsdienstes Ost, der die Bahnreisenden in dieser Nacht mit Brötchen, Heißwürstchen, Getränken und wenn nötig mit Decken versorgt. Spendabel zeigt sich Feinkost Schenke. Als der Laden am Abend schließt, werden die am Tag nicht verkauften Plunderteilchen und Brötchen für die in Gütersloh gestrandeten Bahnreisenden gespendet. Die weitere Verpflegung mit Lebensmitteln organisieren die Einsatzkräfte zentral von Rheda-Wiedenbrück aus.
Der Bahnhofsvorplatz gleicht am Donnerstagabend einer Ausstellung für Rettungsdienstfahrzeuge. Mit zwölf Wagen sind die Helfer vorgefahren. Vor der Post steht der »Mobile Einsatz Container« (MEC), ein umgebauter Lkw-Auflieger, in dem bis zu vier Behandlungsplätze eingerichtet werden können. »Der Anhänger ist ausgestattet wie ein Rettungswagen und multifunktional einsetzbar. Wir haben ihn in Eigenregie innerhalb von anderthalb Jahren hergerichtet«, berichtet Jens Holeczek, Gruppenführer der DRK-Gemeinschaft Rietberg. Verletzte müssen in dieser Orkannacht nicht versorgt werden, doch dafür findet hier der Franzose Settoudi Hakim mit seiner Familie Ruhe. Zusammen mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Töchtern (vier Jahre und sechs Monate alt) war er auf dem Weg von Bonn nach Hannover, als der Zug in Gütersloh stoppt. »Für die Kinder wäre der Trubel in der Bahnhofshalle zu groß«, erklärt Christian Schumacher.
Der unvorhergesehene Zwischenaufenthalt bringt Settoudi Hakim am Abend in die Bredouille. »Ich bin Diabetiker und ich hatte keine Medikamente dabei«, berichtet der 41-Jährige, der als Informatiklehrer an einem Gymnasium in Hannover arbeitet. Im Reisezentrum weist er auf das Problem hin und harrt dort so lange aus, bis ein Bahnmitarbeiter mit der Familie zum ZOB geht. Per Bus fahren sie dann ins St. Elisabeth-Hospital, wo Hakim die dringend benötigten Medikamente erhält. »Und für die Kleine gab es Milch«, freut sich der Franzose über die Gastfreundschaft in Gütersloh. Als die Einsatzkräfte vom DRK am Freitagmorgen Feierabend machen, ist die Odyssee für die junge Familie noch nicht vorbei. »Wie haben sie in die Obhut der Bahnhofsmission gegeben«, sagt Modulführer Christian Schumacher nach einer Nacht ohne Schlaf.

Artikel vom 20.01.2007