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Nudel-Gigant im Kartoffelland

Erinnerungen an die ehemalige Teigwarenfabrik Carl Heinrich Diestelkamp

Von Stephan Rechlin
Gütersloh (WB). Gütersloh liegt im Kartoffelland. Das war vor 110 Jahren nicht anders als heute. Dennoch brachte es ein findiger Unternehmer fertig, Gütersloh mehr als acht Jahrzehnte lang als Nudel-Metropole zu etablieren.

Carl Heinrich Diestelkamp (gestorben 1935) war aus echtem Gütersloher Holz geschnitzt. Seine Wurzeln hatte er im ersten Gütersloher Sägewerk, der 1874 gegründeten Firma Stockmeyer & Diestelkamp. Was ihn auf die Idee brachte, im Jahre 1897 eine Teigwarenfabrik an der Gartenstraße (heute: Carl-Bertelsmann-Straße) zu gründen, bleibt spekulativ. Vielleicht war es die Form herumliegender Sägespäne, vielleicht ein Urlaubsaufenthalt in Italien, vielleicht aber auch nur ein Überdruss an Kartoffeln.
Die notwendigen Maschinen besorgte er in Süddeutschland. Fachpersonal, das sich in der Herstellung von Maccaroni- und Eiernudeln verstand, gab es damals in Gütersloh nicht. Diestelkamp rekrutierte seine ersten Mitarbeiter in Baden und Württemberg, den Spätzle-Ländern. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm Diestelkamp noch die Fabrikation von Back- und Puddingpulver auf.
In einer Zeitungsannonce wirbt die »Westfälische Teigwarenfabrik Gütersloh« 1925 mit ihren Spezialitäten: Maccaroni, feine Eiernudeln, Eier-Hausmacher-Suppen- und Gemüsenudeln, »hergestellt aus feinsten Rohstoffen.« Die Teigwaren waren laut Anzeige in »fast allen Delikatess- und Kolonialwaren-Geschäften« erhältlich. »Man verlange überall die Fabrikate meiner Firma und achte stets auf die Schutzmarke«, ließ Diestelkamp noch in die Anzeige hineinschreiben, und: »Vertreter werden an allen Plätzen, wo ich noch nicht vertreten bin, angenommen.« Die extra erwähnte Schutzmarke zeigt eine Köchin im nostalgischen Kleid. Sie füllt den Inhalt eines zerschlagenen Eies in eine Rührschüssel.
So romantisch dürfte es in der Fabrik nicht zugegangen sein. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verarbeitete die Firma täglich rund 100 000 Hühnereier. An jedem Tag verließen bis zu 120 000 Päckchen Eiernudeln und Teigwaren die Firma. Mit gut 100 Mitarbeitern erzielte Diestelkamp in den besten Jahren einen Umsatz von bis zu 15 Millionen Mark. Nach dem Tod von Carl Heinrich Diestelkamp übernahm Neffe Otto Diestelkamp die Geschäfte. Er baute das Unternehmen zum modernsten Teigwarenwerk Deutschlands aus. Mit Investitionen in neue Hallen, acht große Silos, Absaugvorrichtungen und neue Maschinen sollte die Produktionskapazität Ende der sechziger Jahre um 60 Prozent erweitert werden. Doch es kam anders.
Der Konzentrationsprozess im Handel verlief schneller als erwartet. Wenige Großhändler bestellten nun enorme Mengen Teigwaren - und drückten die Preise. Um mithalten zu können, schloss sich Diestelkamp in den siebziger Jahren mittelständischen Produktionsgemeinschaften an. Die erste hieß »Paletta - Nahrungsmittelwerke GmbH« (1970), die zweite »T.A.G. Nahrungsmittelwerke GmbH« (1972). Die vereinigten Teigwarenhersteller bauten Personal ab und Kapazitäten aus. Doch die Zusammenschlüsse zögerten das Ende nur heraus, ohne es verhindern zu können.
1978 wurde die Gütersloher Teigwarenfabrik geschlossen. Gut 80 verbliebene Mitarbeiter verloren ihre Arbeitsplätze. Ein Sozialplan und eine Arbeitslosenquote von 2,3 Prozent (!) federten den Verlust etwas ab. An die Nudelmetropole Gütersloh erinnert heute noch ein rotes Backsteingebäude an der Carl-Bertelsmann-Straße und ein kleiner Artikel im Buch »Zeitsprünge« von Rolf Westheider und Rudolf Herrmann. An der Bertelsmann-Straße haben die Abrissarbeiten begonnen. »Das Backsteingebäude stammt aus der Gründerzeit der Nudelfabrik. Es bleibt zum Glück erhalten,« sagt Rudolf Herrmann.

Artikel vom 17.01.2007