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»Boom-Town« putzt sich richtig raus

Reisegruppe aus dem Altkreis besucht ein »verlorenes Paradies«

Von Reinhard Stevener
Espelkamp (WB). Ostpreußen -Ê ein Landstrich, der für viele ein Synonym für ein verschwundenes Paradies darstellt, war Ziel einer Reisegruppe aus Espelkamp und dem Altkreis Lübbecke. Die ESPELKAMPER ZEITUNG berichtet in einer Serie von dieser Reise.

Am nächsten Tag stand die Weiterreise in die litauische Hauptstadt Wilna (lit. = Vilnius) an. Die Fahrt ging durch ein grünes, dünn besiedeltes Land. Wiesen und Felder wechseln mit dichten Wäldern ab, die etwa ein Viertel des Landes bedecken. Für Abwechslung sorgen zahlreiche Flüsse, die sich durch die Landschaft schlängeln - und etwa 2500 Seen, die wie blaue Augen zwischen Wäldern, Wiesen und Feldern liegen.
Stolz präsentierte Zita, die Stadtführerin, die drei Wahrzeichen von Wilna: Den Gediminas-Turm, den Berg der drei Kreuze und das Tor der Morgenröte. Das Häusermeer drumherum wird von vielen Kirchen verschiedener Religionen und Zeitalter geprägt. Insgesamt sollen es 40 Gotteshäuser sein, die allein in Wilna stehen -Ê davon je eine Synagoge und eine evangelisch-lutherische Kirche, sechs russisch-orthodoxe Kirchen und 32 katholische Kirchen. 3,4 Mio. Litauer leben auf einer Fläche wie Bayern. Von den dort lebenden Ausländern sind neun Prozent Polen und sechs Prozent Russen. Nur 0,1 Prozent -Ê 3500 Menschen - sind Deutsche.
An der Mündung der Vilnia in die Neris hat es schon im 11. Jahrhundert und früher Ansiedlungen gegeben, doch erst im Jahr 1323 wurde Wilna in einem Brief des Großfürsten Gediminas erwähnt. Deshalb gilt dieses Datum als Gründung der litauischen Hauptstadt. Wilna wurde von der Stadtführerin als die grünste Hauptstadt Europas vorgestellt. Etwa 40 Prozent der Stadt ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, dabei ist die Altstadt überwiegend verschont geblieben. Auf einem Hügel am Kathedralenplatz schaut über den Baumwipfeln der achteckige Gediminas-Turm aus roten Backsteinen hervor. Am Fahnenmast auf dem Dach weht weithin sichtbar die Flagge in den litauischen Nationalfarben: Gelb, Grün, Rot. Auf diesen Anblick mussten die Litauer lange warten, denn im Laufe einer wechselvollen Geschichte verlor das kleine Land mehrmals seine Souveränität an Polen, Russland und Deutschland.
Auf dem Gediminas-Turm wurde die Nationalflagge erstmals am 1. Januar 1919 nach der Ausrufung des litauischen Staates gehisst. Doch während der sowjetischen Besetzung nach dem Zweiten Weltkrieg war sie wieder verboten. Erst 1988, als die Freiheitsbewegung stark genug war, konnte man es wagen, die Flagge öffentlich zu zeigen. Zita hoffte, dass diese Flagge noch lange dort zu sehen sein möge.
Wie alle baltischen Hauptstädte ist auch Wilna seit der Unabhängigkeit eine »Boom-Town«. Überall wird gebaut und saniert - geradezu so, als ob die Menschen all die verlorenen Jahre hinter dem Eisernen Vorhang im Rekordtempo aufholen wollten. Und die litauischen Wachstumsraten gehören zu den höchsten in der Europäischen Union. Der Rest des Landes kann mit der Hauptstadt allerdings nicht mithalten und muss notgedrungen ein gemächlicheres Tempo anschlagen.
Auf dem Land, in den kleinen Dörfern fernab der großen Städte Wilna, Kaunas und Memel, wird der Unterschied besonders deutlich. Hier wird es noch dauern, bis der Anschluss an das moderne Europa vollzogen ist.
Kaunas ist die letzte Station des Litauenaufenthaltes. In etwa findet die Reisegruppe die gleichen Verhältnisse vor, wie bei den Städten Memel und Wilna. Schon früh am Zusammenfluss von Memel und Neris besiedelt, bezeichnet die Stadt 1361 als Gründungsjahr. Es folgte eine Entwicklung als Handwerks-, Handels- und Hansestadt, die mit der Besetzung durch Russland ein Ende fand. Zwischen Preußen und Russland gelegen, wurde Kaunas Festung. Von 1919 bis 1940 war Kaunas provisorische Hauptstadt der jungen Republik Litauen. Heute ist die zweitgrößte Stadt Litauens ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, eine bedeutende Industriestadt und ein renommierter Standort der Wissenschaft.
»Während des Zweiten Weltkrieges und der Sowjetzeit sind viele Menschen emigriert«, erzählte Nijole, die Stadtführerin. »Kaunas hatte früher 430 000 Einwohner, heute sind es 366 000. Der Tourismus spielt aber lange nicht die Rolle wie in der Hauptstadt Vilnius oder der Hafenstadt Klaipeda«, berichtete Nijole. 16 Kirchen zeigen aber auch in Kaunas die hohe Bedeutung, die dem religiösen Leben zugemessen wird.

Artikel vom 28.12.2006