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So spielte er vorwiegend mit den Tieren auf dem Hof. Seine besondere Vorliebe galt einem kleinen schwarzen Kater. „Bobo“ nannte er ihn. Wenn Berthold zur Bushaltestelle ging, um in die Schule zu fahren, saß Bobo auf seiner Schulter. Und wenn er mittags wieder zurückkam, wartete Bobo schon an der Bushaltestelle auf ihn, sprang wieder auf seine Schulter und ließ sich nach Hause tragen. Bobo durfte auch in Bertholds Bett schlafen, wie früher Hexie.

Vor dem Weihnachtsfest 1953 herrscht aufgeregte Stimmung in der Familie. Sonja hat angekündigt, dass sie ihren neuen Freund Pavel eingeladen hat, damit die Familie ihn kennen lernt. Denn die Beiden haben vor, sich am Sylvesterabend zu verloben. Ihren Erzählungen nach, handelt es sich bei Pavel um einen tüchtigen jungen Mann, der eine Festanstellung bei der Stadt als Polizist hat. Gemeinsam träumen sie davon, sich bald ein Haus zu bauen, in dem sich Sonja im Erdgeschoss einen schicken Friseursalon einrichten will. Die Geschwister, Karol und Eva haben ihn schon kennen gelernt und versichern den Eltern, dass Sonja gar keine bessere Wahl hätte treffen können, als diesen jungen Mann. Marek, Lydia und Berthold sind sehr gespannt.

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a die Eltern des jungen Mannes weiter weg im Osten wohnen, wird er den Heiligen Abend in der Familie der Freundin verbringen. Er darf auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen und wird am nächsten Morgen mit dem Zug zu seinen Eltern fahren. Sonja würde ihn gerne begleiten, aber das erlauben Marek und Lydia nicht. Nicht bevor sie verlobt sind. Kurz entschlossen ändert Sonja den Verlobungstermin auf den Heiligen Abend um. Nach viel Theater und Tränen, sagen Marek und Lydia schließlich ja, aber nur, wenn sie mit dem jungen Mann einverstanden sind. Und dazu müssen sie ihn ja erst einmal kennen lernen. Doch da ist Sonja ganz guter Dinge, denn ihr Pavel hat ja einen gut angesehenen Beruf und ist sehr charmant. Ihre Geschwister hat er jedenfalls im Sturm erobert. Da werden ihm die Eltern auch nicht widerstehen können. In Sonjas Augen ist er der schönste und beste Mann der Welt und sie liebt ihn von ganzem Herzen. Ein Leben ohne ihn kann und mag sie sich nicht mehr vorstellen.

Berthold hat kleine Geschenke für die ganze Familie gebastelt. Nun überlegt er fieberhaft, was er denn für Sonjas Freund machen könne. Denn wenn alle ein Päckchen aufpacken, soll er nicht mit leeren Händen dabei sitzen. Berthold macht gern Geschenke und freut sich sehr auf Weihnachten. Am Morgen des Heiligen Abend packt er alle Geschenke schön ein und schreibt auf jedes Päckchen den Namen des Empfängers. Für Pavel hat er ein Polizeiauto gemalt, das Bild eingerollt und eine Schleife darum gebunden. Je näher der Abend rückt, um so aufgeregter werden alle.

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erthold, weil er sich fragt, was die anderen wohl für ihn haben und ob sie sich auch über seine Geschenke freuen. Marek und Lydia, weil sie auf den Mann neugierig sind, mit dem ihre Tochter in Zukunft ihr Leben teilen will. Sonja, weil sie hofft, dass ihre Eltern von Pavel genauso begeistert sein werden, wie sie. Und die beiden anderen wegen allem zusammen, dem neuen Familienmitglied und der zu erwartenden Geschenke. Den Baum haben sie am Nachmittag alle zusammen geschmückt. Die beiden Mädchen decken den Tisch im Wohnzimmer. Lydia hat eine Riesenbratwurst in die Pfanne gelegt, sie bedeckt den ganzen Pfannenboden, wie eine Schlange die sich ganz dicht um sich selbst gedreht hat, findet Berthold. Dazu gibt es einen köstlichen Kartoffelsalat. Das traditionelle „Heilig-Abend-Essen“ der Familie. Marek und Karol kommen aus dem Stall und müssen sich noch waschen und umziehen. Da man sich in der Küche wäscht, wird es etwas eng, darum gehen Berthold und die Mädchen schon in das Wohnzimmer. Lydia beaufsichtigt die Bratwurst. Im Wohnzimmer verbreitet der Kachelofen eine heimelige Wärme. Und wie immer, wenn Berthold am Kachelofen steht und die Wärme spürt, muss er an seine Mama denken. Die letzte Erinnerung an sie ist mit diesem Gefühl der Wärme verbunden, die sie Beide durchströmt hat, als sie eng umschlungen in der Sommersonne am Bahndamm lagen. Im Sommer muss er überhaupt viel mehr an Mama denken, als im Winter. Im Winter denkt er eher an das kalte Jagdhaus, in dem er immer gefroren hat. Nur beim Plätzchenbacken mit Lydia, sieht er manchmal Oma Theresa vor sich und glaubt den Duft ihrer guten Kekse zu riechen.

Draußen hört man das Geräusch eines Motorrades. Sonja quietscht vor Aufregung: „Das ist er, er kommt, bitte, bitte, seid nett zu ihm!“ Und damit rennt sie aus dem Zimmer zur Haustür hinaus, um dem Mann der gerade vom Motorrad steigt, um den Hals zu fallen. Pavel drückt seine Sonja, auch er ist aufgeregt vor der Begegnung mit Sonjas Eltern. Umständlich schnürt er ein großes Paket vom Rücksitz, in dem sind die Geschenke für Sonja und ihre Familie. Eng umschlungen gehen sie ins Haus. Erwartungsvoll sitzt im großen Wohnzimmer die übrige Familie. Marek und Lydia sitzen mit Berthold auf dem Sofa, welches neben dem dunkelgrünen Kachelofen steht, der die rechte Zimmerecke ausfüllt und um den sich eine gepolsterte Ofenbank zieht, unter der Holzscheite gestapelt sind. Vor dem Sofa steht ein runder Tisch, auf den Lydia eine bestickte Weihnachtsdecke und eine Schale mit Plätzchen gestellt hat. Drei geblümte Sessel machen die Sitzecke komplett. In der Mitte des Raums steht der wunderschön geschmückte Tannenbaum, unter dem die Geschenke liegen. Links davon ist der Esstisch von den beiden Mädchen festlich gedeckt worden. An der Fensterfront gegenüber der Tür sind die von Eva genähten, grün-weiß gestreiften Vorhänge schon zugezogen. Und auf dem großen Büfett an der linken Wand stehen Gläser und Flaschen für einen feucht-fröhlichen Abend bereit. Eva und Karol haben es sich in den Sesseln bequem gemacht und alle starren sie zur Tür. Endlich geht sie auf und das verliebte Paar kommt herein. „Guten Abend und frohe Weihnachten,“ sagt Pavel, nimmt seine Lederkappe ab und streicht sich die widerspenstigen blonden Haare aus der Stirn, wobei ein daumennagelgroßes Muttermal in Schmetterlingsform über seinem rechten Auge sichtbar wird. Alle stehen auf, um den jungen Mann zu begrüßen, nur Berthold sitzt mit schreckgeweiteten Augen und wie gelähmt auf dem Sofa. In der ganzen Aufregung achtet niemand auf ihn. Er spürt, wie das Entsetzen ganz langsam von den Füßen aufwärts in seinen Körper kriecht und ihn zum Zittern bringt. Er will aufstehen, aber er kann nicht, er will weg hier, aber er kann sich nicht bewegen. Er starrt den gar nicht mehr so schlanken Pavel an, sieht die blonden Haare, das vorspringende Kinn, die dunklen Augen, die jetzt so freundlich strahlen, die er aber doch ganz anders kennt.

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nd vor seinem Auge steht das Bild, wie dieser Mann auf die Bäume schießt und in seinen Ohren hört er: „ Josef tot, alle Verräter tot.“ Er hört die Schüsse, fühlt die Angst, sieht wieder die hasserfüllten Augen dieses Mannes, als er ihn und seine Mutter ansieht. Hört sich selbst schreien, „Mama, Mama,“ als er sie mit dem Gewehr zwingt, mit ihm zu gehen. Ihr Gesicht ist plötzlich ganz deutlich vor seinen Augen, wie sie ihn anschaut und ihm die Strickjacke umlegt. Endlich löst sich der Schock, er kann sich wieder bewegen, aber hört nicht was die anderen sagen, versteht ihre Fragen nicht: „Berthold was hast du? Du bist ja ganz blass. Ist dir schlecht?“ Wie ein Schatten gleitet er unter dem Tisch durch, zur Tür, hinaus aus dem Zimmer, die Treppe hoch in seine Kammer, auf das Bett und den Kopf in die immer dort liegende Strickjacke seiner Mutter wühlend, kommt endlich ein Schluchzen aus seiner Kehle. „Mama, Mama,“ weint er. Was soll er nur tun? Er müsste eigentlich weglaufen, aber er kann nicht, nicht hinaus in die Kälte und das Alleinsein. Es tut so weh, es tut so weh, so allein zu sein. „Mama, Mama, ich will zu dir,“ schluchzt Berthold und wünscht sich in diesem Moment, erschossen zu werden.

Berthold, Berthold, was ist nur los mit dir, warum weinst du denn so schrecklich?“ Lydia setzt sich auf das Bett des Jungen und streichelt liebevoll seine zuckenden Schultern. Auch Marek kommt in die Kammer um zu sehen, was der Junge hat. Es dauert lange, bis sie Berthold zum Sprechen bringen können. Als er ihnen dann erzählt dass es Pavel war, der seine Mama und seinen Opa Josef erschossen hat, sind sie entsetzt. Sie glauben ihm erst nicht und sagen, dass er sich täuscht, dass er sich doch bestimmt gar nicht mehr so genau erinnern kann und Pavel dem Mann von damals vielleicht nur ähnlich sieht. Aber Berthold ist sich ganz sicher, dass dies der Mann ist, der Opa Josef und seine Mama erschossen hat. Auch wenn es schon über acht Jahre her ist, dieses Gesicht wird er nie vergessen. Und unter Weinen stottert er: „Er, er hat einen Schmetterling über dem Auge, das ist doch selten oder? Es kann nur er sein, ich weiß es.“ Als Marek und Lydia erkennen müssen, dass Berthold sich ganz sicher ist und das Muttermal ja wirklich auffällig und selten ist, sind sie betroffen und ratlos. Was sollen sie jetzt nur tun? Sie versprechen Berthold, dass er keine Angst haben muss, der Mann wird nicht zu ihm dürfen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.12.2006