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Die Liebe für die
Kunst verraten

Gegenwartstheater in Herford

Von Helga Ruß
Herford (HK). Ein Autor hat die Aufgabe, Fragen zu stellen und nicht Fragen zu beantworten, postuliert Neil LaBute; so, wie es auch die bildenden Gegenwartskünstler tun. So warf auch das Stück »Das Maß der Dinge« des amerikanischen Erfolgsdramatikers LaBute am Dienstagabend im Herforder Stadttheater eine Reihe von Fragen auf, die im Publikum nach Antworten suchten.

Ein modernes, schneeweißes Bühnenbild, nur durch verschieden farbiges Licht und Filmprojektionen gestaltet, dazu zeitnahe Alltagssprache und unpathetische Gestik ließ erkennen, dass das für Qualität bekannte Studio Landgraf keine Allerwelts-Inszenierung auf die Bühne brachte.
Neben der Beziehungsthematik »Wie weit darf sich ein Mensch aus Liebe vom Anderen manipulieren lassen und sein eigenes Ich aufgeben« wurde vor allem die Frage nach den Grenzen der Kunst gestellt: Nachdem Evelyn, eine attraktive, unterkühlte Kunststudentin, im Museum ein Spray-Attentat auf eine griechische Statue verüben wollte, weil sie diese wegen des nachträglich angebrachten Feigenblattes für verlogene Kunst hält, macht sie sich an den unscheinbaren Studenten Adam heran, der im Museum als Aufseher jobbt, und sprüht ihm ihre Telefon-Nummer auf die Jacke. Adam platzt vor Stolz. Und so entspinnt sich, wie der ahnungslose Student glaubt, eine tiefe Liebe, für die er bereit ist, alles zu tun. Die resolute Evelyn formt sich ihre Eroberung nach ihren Vorstellungen, mit Liebesspielen macht sie ihn gefügig und bringt ihn dazu, sein komplettes Outfit zu ändern und sich sogar die Nase richten zu lassen. Die äußere Verwandlung hinterlässt Spuren auch in seinem Inneren.
Doch das dicke Ende folgt alsbald. Die Erschaffung eines neuen Adams war nichts als ein Abschlussprojekt für Evelyns Diplomarbeit. Unbeirrt nach dem Auftrag ihres Professors handelnd: »Erschaffe Kunst, aber verändere die Welt«, veränderte sie ganz einfach einen Menschen und präsentierte nach 18 Wochen stolz ihre Schöpfung in einem Vortrag an der Uni. Der ahnungslose, geschöpfte und geschröpfte Adam im Publikum ist entsetzt: »Das ist kranker, schlechter Witz. Es muss doch Grenzen geben, damit Kunst überhaupt existieren kann!« Und die Liebe, die Zuneigung? »Mein Interesse«, kontert Evelyn kühl, »war rein ergebnisorientiert«. War hier das maß der Dinge überschritten im Namen der Kunst?
»Es gibt eine Spur des Verrats«, sagte Autor LaBute (43) einmal, »die sich durch viele meiner Werke zieht, weil ich denke, dass dies das Schlimmste ist, was zwischen Menschen passiert, besonders zwischen Menschen, die behaupten, einander gut zu kennen.«

Artikel vom 23.11.2006