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Schizoide Situation
des getrennten Landes

Autor Ingo Schulze blickt in seinen Romanen zurück

Von Rainer Maler (Text und Foto)
Paderborn (WV). Mit Ingo Schulze stellte sich ein weiterer Autor der deutschen Wiedervereinigung einem interessierten Publikum an der Paderborner Universität vor. Er las im Rahmen der Reihe »Deutsche Literatur der Gegenwart« aus seinem aktuellen Roman »Neue Leben«.

Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, gelang 1998 mit »Simple Stories, ein Roman aus der ostdeutschen Provinz« der literarische Durchbruch und ein Bestsellererfolg. Auch in seinem neuen Buch geht es um die aus Sicht des Autors spannende Zeit des Mauerfalls und der Wiedervereinigung. Für Schulze war es nicht nur eine politische Zäsur, sondern der entscheidende Schritt zum Schriftsteller-Dasein.
Eigentlich habe er als Jugendlicher wie viele von einer Karriere als Fußballprofi geträumt, dann wollte er Schriftsteller werden, hatte aber mit 30 Jahren keine Geschichten, kein Werk vorzuweisen. Der Mauerfall als Wunde und Bruchstelle zwischen zwei Welten, zwischen Ost und West, zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft, zwischen Stacheldraht und Reisefreiheit, der gesellschaftliche Wandel im Zeitraffer wurde für den Autor Schulze zum erzählerischen Paradies.
Natürlich sei vieles autobiographisch, bemerkte Ingo Schulze in der Diskussion. Kindheitserlebnisse zwischen Matchboxautos und Carokaffee, zwischen sehnsüchtig erwarteten Paketen von der Verwandtschaft aus dem Westen, Armeezeit und politischem Engagement liefern die Bühne für das Erzählen.
Im Briefroman »Neue Leben« schreibt der DDR-Bürger Enrico alias Heinrich Türmer Briefe an seine Schwester Vera, seinen Schulfreund Ziehlke und eine bundesdeutsche Fotografin. Eigentlich wollte er als regimekritischer Schriftsteller »groß rauskommen«, versucht sich dann nach dem Zusammenbruch der DDR als Journalist und macht als Unternehmer zeitweilig Karriere. Der poetische Schwärmer ist in der rauen Wirklichkeit der Nachwendezeit angekommen, der Wandel vom idealistischen DDR-Bürger zum Geschäftemacher vollzogen.
Die Wiedervereinigung bedeutet für Schulzes Romanfiguren Zusammenbruch und Neuorientierung, an die Stelle von Beziehungen, über die man sein Leben organisiert hatte, tritt nun Geld. »Neue Leben« spiegelt im zweigeteilten Lebensentwurf des Heinrich Türmer die schizoide Situation eines jahrzehntelang getrennten Landes. Ingo Schulze hat die altmodische Form des Briefromans für diesen Roman gewählt, in dem ein fiktiver Herausgeber die Lebensentwürfe kommentiert und auch an die Dissidentenszene in der DDR erinnert. In »Neue Leben« verwirklicht Schulze die Kunst des Fabulierens im schönsten Sinne des Erzählens, anschaulich, sprachlich versiert, spannend.

Artikel vom 22.11.2006