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Grausamkeit in
der Todesfabrik
hautnah erlebt

KZ-Opfer berichtet vor Realschülern

Von Ulrich Hohenhoff
(Text und Foto)
Senne (WB). Manfred Walter, Schulleiter der Realschule Senne, war tief betroffen, ebenso die Schüler des kompletten zehnten Jahrgangs. »Es ist das erste Mal, dass ein KZ-Überlebender vor jungen Leuten in einer Schule berichtet.«

Trotz aller Qualen empfindet Henryk Mandelbaum, Häftling des Sonderkommandos Auschwitz 1944 /45, keinen generellen Hass gegen die Deutschen. Den jungen Leuten wünschte er »Glück, Gesundheit und ein langes Leben«, umarmte gar den einen oder anderen Schüler. »Eine noble Geste«, fand Manfred Walter. Der Leidensweg des damals 20-Jährigen begann mit der Verhaftung in Gleiwitz. »Bei der Kriminalpolizei und später bei der Gestapo wollte man die Wahrheit aus mir herausprügeln, dabei habe ich immer die Wahrheit gesagt«, beschreibt der heute 84-Jährige das unvorstellbare Martyrium in Auschwitz-Birkenau. »Warum tun Menschen so etwas?«, sprach Henryk Mandelbaum das Forum direkt an.
Mehr als 1 400 Kilometer war der polnische Jude nach Bielefeld gereist, um seine von der »Initiative gegen Ausgrenzung« organisierte Ausstellung unter dem Titel »Nur die Sterne waren wie gestern« in der Volkshochschule im Ravensberger Park zu eröffnen (Bericht von gestern). Die Ausstellung dort ist noch bis zum 17. Dezember zu sehen. Gestern besuchte Henryk Mandelbaum die Realschule Senne. »Eine Schule, die wir mit Bedacht ausgewählt haben«, sagt Rafaela Kula. »Um auch jungen Leuten ein Bild vom barbarischen Massenmord in der Todesfabrik Auschwitz-Birkenau zu vermitteln, ist unserem Gast kein Weg zu weit.«
Sichtlich erschüttert vernahmen die Schüler die unvorstellbaren Leiden und Erlebnisse von Mandelbaum, der eindrucksvoll die Vergangenheit beschrieb. »Ich wünsche keinem, das jemals zu sehen, das zu machen. Da bekommt man einen Herzschlag.« Aus ausgewähltes Mitglied des Sonderkommandos habe er Furchtbares tun müssen. Er war mit dem Fortschaffen der in den Gaskammern umgebrachten Menschen und der schamlosen Ausplünderung der Leichen beauftragt. »Wir mussten die ineinander verklammerten Menschen auseinanderziehen, ihnen die Haare abschneiden und das Zahngold mit der Zange herausbrechen.«
Dann wurden die Toten in Gruben gezerrt und verbrannt. »Manche haben schlecht gebrannt. Dann wurde das flüssige Fett aus einer Vertiefung am Rande der Gruben mit Kellen abgeschöpft und über den aus Holz und Buschwerk bestehenden Scheiterhaufen verteilt, um das Feuer zu schüren.« 720 Menschen seien dort am Tag verbrannt worden. Und wer nicht tot war, den hätten SS-Männer erschossen. Insgesamt seien in Auschwitz-Birkenau 1,3 Millionen Juden, Russen, Polen und Personen vieler andere Nationalitäten umgekommen.
Ein knappes Jahr verbrachte Henryk Mandelbaum in dem Konzentrationslager. Auf dem Todesmarsch gen Westen im Januar 1945 gelang ihm die Flucht. »Wir sollten das Lager vor den anrückenden Russen räumen, uns zu Tode marschieren.« Ein Bauer habe ihm, der unter seiner Häftlingskleidung Jacke und Hose eines toten Mithäftlings trug, Unterschlupf gewährt. Konsequenz aus dem erlebten Grauen: »Alle Menschen haben ein Recht, zu leben.«

Artikel vom 21.11.2006