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Wenn sich der Mensch
rückwärts entwickelt

»Im Leben bleiben«: Auftakt zur Woche der Demenz

Paderborn (WV). Demenz ist eine Volkskrankheit, die Betroffene und ihre Angehörigen ins Abseits drängt. Diese Isolation will der Caritas-Verband Paderborn mit der aktuell laufenden Veranstaltungswoche »Im Leben bleiben« aufbrechen. Christian Müller-Hergl, Wegbereiter der »personenzentrierten Pflege« in Deutschland, eröffnete die Woche.

Vor einem großen Publikum in der Fachhochschule für Wirtschaft am Fürstenweg erläuterte Müller-Hergl Verlauf und Bedeutung der Krankheit, während der sich der Mensch rückwärts bis in die Kindheit entwickelt. Das kann bis in das Säuglingsstadium führen und ist in jedem Fall mit einer Abhängigkeit verbunden, die keiner will - weder der Kranke, noch die Pflegenden.
Der Caritas-Verband hat die Angehörigen in den Mittelpunkt seiner Woche gestellt. Sie seien sehr häufig überfordert, sagt Müller-Hergl. Oft erkranken sie selbst während der jahrelangen Pflege. Noch schwerer ist es, den Menschen, den sie kannten, in einer neuen Wirklichkeit zu akzeptieren. »Das ist eine fast unlösbare Aufgabe«, meint Christian Müller-Hergl. Er nannte zwei Voraussetzungen für das Gelingen der Pflege: Die Perspektive der Krankheit muss klar sein - man darf sich nichts vormachen - und Kranker und Pflegender müssen es gelernt haben, über Konflikte zu reden und sie auszutragen.
Noch schlimmer wird die Situation durch die Scham, die die Familien belastet, und die Distanz zu anderen. Selbst Freunde mieden und verleugneten sie, berichtet ein Mann, der seine Frau pflegt: »Die Türen bleiben verschlossen.« Er wünschte sich deshalb einen Ort, den er mit seiner Frau besuchen kann, denn »der Kontakt mit anderen Menschen hilft ihr sehr.« In der Schweiz oder in England beispielsweise gibt es solche Cafés oder Treffpunkte für Menschen mit Demenz schon längst.
Im Kreis Paderborn leiden mehr als 5000 Menschen an Demenz, wie der Vorsitzende des Caritas-Verbandes Paderborn, Berthold Naarmann, anmerkte. Dennoch hält der Caritas-Fachbereichsleiter für Alten- und Krankenhilfe, Hans-Werner Hüwel, die hiesige Pflegesituation für gut, wenn auch verbesserungswürdig. So gibt es eine Reihe Angehörigengruppen und ehrenamtliche Unterstützungsangebote.
Hüwel war Teilnehmer an einer Podiumsdiskussion, die sich an den Vortrag von Christian Müller-Hergl anschloss. Weitere Teilnehmer des Podiums waren die Ärztin Dr. Martina Näher-Noé vom Westfälischen Zentrum für Psychiatrie und Psychitherapie Paderborn und Beate Skottki von der Alzheimer Gesellschaft. Näher-Noé wies darauf hin, wie wichtig es sei, die Krankheit früh zu erkennen und bewusst damit umzugehen. Alle Beteiligten brauchten Zeit, um sich auf die Situation und die Zukunft vorzubereiten. Abzuwenden sei die Krankheit nicht. Die rechtzeitige Einnahme von Medikamenten könne sie nur verzögern.

Artikel vom 16.11.2006