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»Es hätte jeden treffen können«

Das lippische Kreisarchiv hat zahlreiche NS-Entschädigungsakten aufgearbeitet

Detmold/Kreis Lippe (SZ). 1986 hat das Bundesministerium für Finanzen »die Wiedergutmachungsgesetzgebung als eine der bedeutendsten Gesetzgebungswerke der Nachkriegszeit« bezeichnet. Eine Vielzahl von Verfolgten aus unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen des Dritten Reiches beantragten nach Angaben des Kreises in den Jahren nach dem Krieg Entschädigungen - auch in den ehemaligen Kreisen Detmold und Lemgo.

1800 Entschädigungsakten wurden im Auftrag des Kreisarchivs von der Detmolder Historikerin Gudrun Mitschke-Buchholz aufgearbeitet und können nun für Bildungs- und Forschungszwecke verwendet werden. Das Ergebnis der Ausarbeitungen präsentierte die Historikerin jetzt im Kreishaus.
Die Akten würden sowohl die erschwerten Arbeitsumstände der Verwaltung als auch die in der Tendenz feststellbaren Benachteiligungen von bestimmten Verfolgtengruppen in der konkreten Sachbearbeitung dokumentieren. Die Auswertung zeige: Nicht nur Juden zählten zu den Opfern des Nationalsozialismus, auch Sinti und Roma, Zwangssterilisierte oder Widerständler hätten zu den Verfolgten des NS-Regimes gehört. Neben einem beträchtlichen Antrags- und Bearbeitungsauf-wand hätten eine unklare und sich fortwährend ändernde Entschädigungsgesetzgebung die Bearbeitung der Anträge in den Kreisen Detmold und Lemgo erschwert. Der Bestand zeige auf, dass es unmittelbar nach Kriegsende in Westdeutschland das Konzept einer Entschädigung für ein weit gefasstes Verfolgtenspektrum gegeben habe. Dieser Ansatz sei von den zuständigen Entschädigungsämtern jedoch nicht weiter verfolgt worden, so dass zunächst eine eher einschränkende Entschädigungspraxis in Gang gekommen sei, die Opfer vielfach ausgeschlossen hätte. »Diese Verwaltungspraxis war nicht selten auch ein Spiegel der Gesellschaft«, sagte Kreisarchivar Dr. Hansjörg Riechert. Erst durch neue Erkenntnisansätze aus der Psychologie, sich ändernde Ansichten über historische Abläufe des Holocaust und durch die verstärkte Organisation von Verfolgten in Interessensorganisationen habe ein Umdenken bei medizinischen Gutachtern, Verwaltungsfachleuten und Juristen der Entschädigungsverwaltung begonnen. »Es wurde deutlich, dass es jeden hätte treffen können«, erläutert Gudrun Mitschke-Buchholz.
In eineinhalb Jahren hat die Historikerin den komplexen und umfangreichen Aktenbestand archivisch aufgearbeitet. Das Findbuch, das sowohl in elektronischer als auch in papier-gebundener Form vorliegt, ist um einen ausführlichen Einleitungsabschnitt zur Entschädigungsthematik ergänzt und kann von Schülern und Studenten für Bildungs- und Forschungszwecke verwendet werden. Weitere Informationen erteilt Dr. Hansjörg Riechert unter %  0 52 31 / 76 61 09.

Artikel vom 31.10.2006