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Schmale Luke führt ins Wahrzeichen

Viel Beton: Steinhäger-Flasche thront seit 1912 auf dem Dach der alten Brennerei Schlichte

Von Annemarie Bluhm-Weinhold
Steinhagen (WB). Bis ins zweite Obergeschoss reicht noch der Lastenfahrstuhl. Doch dann geht es nur per Leiter weiter: zunächst hinauf aufs Dach und schließlich auf ein schmales Podest aus Metallrosten. Einzig durch Klettern ist ein Wahrzeichen der Gemeinde zu erreichen: die Steinhäger-Flasche auf dem Schlichte Carree.

Der Öffentlichkeit zugänglich ist sie freilich nicht. Für unsere Serie »Blick hinter die Kulissen« jedoch öffnet Hausmeister Gerald Koch die Flasche. Das passiert nicht oft, und entsprechend klemmt alles ein bisschen: Unter Zuhilfenahme eines Hammers und mit viel Kraftaufwand zieht Koch den Einstieg ein Stück weit auf. Tür wäre fast zuviel gesagt: Es ist kaum mehr als eine flache Luke, die man in den untersten der Brunnenringe, aus denen die Flasche besteht, geschnitten hat. Viel zu sehen ist - erwartungsgemäß - nicht: Der Schein der Taschenlampe fällt auf graue Betonwände und etliche Verstrebungen aus Holz und Eisen. Ungleich spannender ist der Blick von der Flasche aus über Steinhagens Dächer . . .
5,45 Meter ist sie hoch, 1,90 Meter ihr Durchmesser und 15 670 Liter ihr Volumen: Seit 1912 thront die Flasche auf dem Dach der früheren Brennerei Schlichte. Unternehmer Robert Schlichte ließ die Kruke aus Beton damals werbewirksam installieren. »Damals war die Flasche auch noch braun«, weiß Dieter Flöttmann, Vorsitzender des Historischen Museums, von alten Fotos. Zudem gab es die berühmten grünen Glasfaschen anno 1912 noch gar nicht.
Wann auch das Wahrzeichen dann Grün anlegte, das weiß niemand mehr so genau. Auch Heinrich Uhlemeyer nicht, der doch 40 Jahre lang, bis zum Ruhestand 1984 Pförtner bei Schlichte war. Wohl kann er sich aber an regelmäßige Renovierungen erinnern. Eine aufwändige Prozedur: »Die Flasche musste eingerüstet werden, damit Maler Pohlmann überall hinkam.«
Feinstarbeit war gefragt, um die Buchstaben des Etiketts nachzuzeichnen. Doch der Handwerksmeister hatte bereits bei der ersten Restaurierung in den 60-er Jahren eine Schablone angefertigt, die er 1980 einfach nur wieder anlegen musste, weiß Dieter Flöttmann. Und heute erübrigen sich dank moderner Technik alle Auffrischungen an der Schrift: Als 1998 wieder einmal ein neues Etikett fällig war und diesmal Malermeister Volkmann zur Generalüberholung aufs Dach stieg, da wurde auf dem Beton eine sogenannte Alu-Dibont-Platte festgeschraubt. Auf diese hatte, wie Flöttmann erläutert, die Wigger Werbetechnik das älteste heute noch bekannte Etikett dauerhaft aufgebracht.
Schlichtes Familienzeichen auf dem Kopf des Wahrzeichens blieb immer das gleiche - doch die Schrift änderte sich 1998 nicht zum ersten Mal. Ursprünglich gaben die Etiketten 1766 als Gründungsdatum der Brennerei Schlichte an: »Doch das ist nicht nachweisbar. Vor 1840 gibt es keine Aufzeichnungen über Produktion oder Handel«, sagt Dieter Flöttmann. Auf dem Villengrundstück an der Alten Kirchstraße soll es aber schon vorher eine bäuerliche Brennerei gegeben haben . . .
Steinhagen ist ohne sein Wahrzeichen nicht vorstellbar: »Da würde etwas fehlen«, sagt Heinrich Uhlemeyer. 40 Jahre lang ist sein Blick schließlich jeden Morgen zuerst nach oben gewandert. Und mit leichtem Grausen denkt der 83-Jährige noch heute daran, wie er, ein erfahrener Imker, dort oben einst ein Hornissennest zu entfernen hatte.

Artikel vom 28.10.2006