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Fortsetzung von Seite 20

»Der Bahnhof war mit Girlanden geschmückt und das Publikum empfing die schönen Wagen bei ihrer Ankunft mit frohem Jubel. So ist dann glücklich das große Werk bis zu Ende gebracht. Wir sind damit in eine ganz neue Epoche eingetreten. Welch ein Schwindel erregender Gedanke, dass wir beinahe den Einwohnern von Paris und Berlin die Hand bieten können! Wie angenehm, dass wir die Kölnische Zeitung am Nachmittage desselbigen Tages hier haben, an dem sie in Köln ausgeben wird, während ein Brief von Bünde hierher viele Tage unterwegs ist«.
Neben sensationellen Veränderungen spiegelte der Inhalt des Kreisblattes vor allem die Sorgen und Sensationen des kleinstädtischen Alltags wider. Beschwerden über den schlechten Zustand mancher Straßen und die mangelhafte Beleuchtung der Frachtwagen auf dem Neuen Markt fanden sich ebenso wie Berichte über die Anwesenheit des Königs in Enger, den tragischen Unfalltod eines Eisenbahnarbeiters oder das Schicksal eines elfjährigen Jungen, den eine Eiche erschlagen hatte.
Die Nachrichten aus der weiten Welt, die häufig aus anderen Zeitungen oder Büchern übernommen wurden, beschäftigten sich auffallend oft mit der Auswanderung nach Amerika. Neben allgemeinen Berichten über den Massenexodus in die Neue Welt und praktischen »Anweisungen für Auswanderer nach den westlichen Staaten von Nordamerika« meldeten sich auch kritische Stimmen, die dringend vor übertriebenen Hoffnungen warnten. Angesichts der trostlosen Lage in der Heimat dürften aber all diese Berichte bei vielen Lesern eine eher faszinierende Wirkung nicht verfehlt haben.
Blickt man aus heutiger Sicht auf die Anfangsjahre des HERFORDER KREISBLATTes zurück, so fällt sofort auf, wie stark die Publizistik - damals wie heute - mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft ist. Die Anfänge des KREISBLATTes wurzelten nicht in dem Kampf um Presse- und Meinungsfreiheit, sondern waren das Ergebnis einer konservativen Gegenströmung. Die Auswahl der Nachrichten, die häufig aus anderen Zeitungen oder Büchern übernommen wurden, bestimmte die staatliche Obrigkeit. Die Zensur bleib bezüglich der Ausblendung politischer oder kritischer Inhalte konsequent, tolerierte aber ein ansonsten überraschend breites thematisches Spektrum: Das Blatt informierte über neue Erkenntnisse und Erfindungen, es berichtete über Ereignisse aus der weiten Welt, und es publizierte die Kleinbürgersorgen des Alltags. Das Unterhaltungsbedürfnis der Leser wurde ebenso befriedigt wie deren Neugier und Debattierlust. In dieser Beziehung trug das KREISBLATT bereits vor 160 Jahren überraschend moderne Züge.
Die Unterschiede bleiben dennoch offenkundig. Die kontroverse Darstellung oder gar Diskussion einzelner Aspekte musste unterbleiben, da die Entwicklung einer öffentlichen Meinung von staatlicher Seite gefürchtet, behindert und unterdrückt wurde. Hier zeigt sich die völlig andere Qualität der modernen Presse, deren Selbstverständnis es geradezu verlangt, zu einer eigenständigen Meinungsbildung beizutragen, durch Einordnung, Bewertung und Kritik. Auch die Erwartungen und Einstellungen eines Großteils der Leserschaft waren heutigen Vorstellungen fremd. In der agrarisch geprägten Gesellschaft des Vormärz blieben eine traditionelle Ortsgebundenheit, die Bindung an die Lehren und Institutionen der Kirche sowie die Verehrung des Königs für viele Menschen unverrückbare Werte, die ihre prägende Kraft erst im Zuge der Industrialisierung und deren Auswirkungen verloren.
Auch war in einer Kleinstadt wie Herford der Rest der Welt weit entfernt - entsprechend dankbar waren die Menschen für Nachrichten jeder Art. Das heutige KREISBLATT verbindet mit seinen Anfängen kaum mehr als der gemeinsame Name. Das liegt weniger an dem Blatt selbst als an dem historischen Quantensprung, der unsere Gegenwart von der Mitte des 19. Jahrhunderts trennt. Die Einschnitte und Brüche auf dem Weg von einem autoritären Obrigkeitsstaat zu einer pluralistischen Demokratie; die rasante Entwicklung von einem feudalen Agrarstaat zu einem der am stärksten industrialisierten Länder der Welt; die Veränderungen im Alltag - von bäuerlicher Lebensweise in einer ländlichen Umgebung, die man nie verließ und deren Rhythmus von der Natur bestimmt wurde, zu einem Leben, das geprägt wird durch Technik und permanenten Wandel - all diese Neuerungen, Entwicklungen, Kontinuitäten und Brüche spiegeln sich im HERFORDER KREISBLATT wider, seit mittlerweile 160 Jahren. Neben seinem journalistischen Anspruch bleibt das KREISBLATT damit für unsere Region eine historische Quelle ersten Ranges.

Artikel vom 28.10.2006