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Lesen mit sechs Punkten

Anneliese Hölscher unterrichtet in der Blindenschrift

Von Julia Kleinschmidt
Lübbecke (WB). Üben, üben und nochmals üben: Das ist das, was Anneliese Hölscher ihren Schülern immer wieder mit auf den Weg gibt. Denn ein paar Jahre könne es schon dauern, bis man die Blindenschrift in ihrer Vollform gut beherrsche, erzählt die 63-Jährige. Jeden dritten Mittwoch im Monat trifft sich Anneliese Hölscher hier mit anderen Blinden und Sehbehinderten im Bürgerhaus zur »Lesestunde«.

Es ist das Unterscheiden einzelner Buchstaben und Wörter, das Anneliese Hölscher mit ihren Schülern immer wieder trainiert. Während ein Finger der rechten Hand über die Punkte auf der Buchseite huscht, kontrolliert sie mit einem anderen Finger, dass sie nicht in der Zeile verrutscht. »Manch einer liest mit rechts, andere machen das mit links, das ist egal«, berichtet die Rödinghausenerin. Nur kalt oder feucht dürften die Hände nicht sein, das erschwere sonst das Erkennen der Buchstaben. »Auch Diabetiker haben öfter Probleme damit.«
Wer die Vollschrift beherrscht, den erwartet mit der so genannten Kurzschrift die nächste Herausforderung, also Kürzel, die zum Beispiel für bestimmte Vor- und Nachsilben oder Lautgruppen eingeführt wurden. »Ohne die Vollschrift kann man die Kurzschrift nicht erlernen«, erklärt Anneliese Hölscher weiter. In der Kurzschrift seien auch die meisten Bücher für blinde Menschen geschrieben.
Die gebürtige Stockhauserin erlernte die Voll- beziehungsweise die Kurzform der Blindenschrift übrigens als selbst Betroffene während mehrerer Kuraufenthalte. Inzwischen bietet sie die Lesestunde beim Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen, Bezirksgruppe Altkreis Lübbecke, seit mehreren Jahren an. Im Bürgerhaus treffen sich blinde Menschen aus dem Altkreis, aber auch diejenigen, die noch ein leichtes Sehvermögen haben. »Wir haben hier wieder einen Anfängerkurs, aber es machen auch andere zum Üben mit«, so Anneliese Hölscher weiter. »Das Fühlen und der Geist sind das Wichtigste. Das Alter spielt beim Lernen der Blindenschrift keine Rolle«, ermutigt sie andere Betroffene zum Mitmachen, »es liegt an jedem selber.« Mitmachen könnten jederzeit gerne auch sehende Angehörige.
Selbst die Arbeit am Computer ist für blinde und sehbehinderte Menschen dank einer extra »Braille«-Zeile - die die Schrift auf dem Bildschirm lesbar macht - oder einer Sprachausgabe längst kein Problem mehr. Doch auch ohne aufwändige Elektronik kann man sich helfen, wie Anneliese Hölscher umgehend beweist und aus einem mitgebrachten Koffer ihre Punktschriftmaschine holt. Wie bei einer Schreibmaschine können hier über die Tastatur Briefe in Blindenschrift verfasst werden.
»Das hier ist mein Name, das die Anschrift«, erklärt Anneliese Hölscher und tastet über die Punktkombinationen oben links auf dem Papierbogen.
Im Anschluss an die Lesestunde, die um 13.30 Uhr beginnt, findet im Bürgerhaus jeden dritten Mittwoch im Monat um 15 Uhr außerdem der Klönnachmittag des Blinden- und Sehbehindertenvereins statt, ein gemütliches Beisammensein, der dem gegenseitigen Austausch dient. Auch hier sind Interessierte jederzeit willkommen, auch wenn sie nicht dem Verein angehören. »Für viele Betroffene ist es zuerst schwierig, hierhin zu kommen«, weiß Karl-Heinz Thele aus Tonnenheide, der jetzt sechs Jahre dabei ist. Das zeige sich auch anhand einiger Zahlen. »Wir haben etwa 800 Blindengeld-Empfänger im Kreis Minden-Lübbecke, aber nur etwa 60 bis 70 Vereinsmitglieder. Das sind nicht mal zehn Prozent.« Und er fügt hinzu: »Mit selbst hat es aber unheimlich viel gebracht.«
Ansprechpartner für Interessierte ist auch der Vorsitzende des Lübbecker Blinden- und Sehbehindertenvereins, Horst Klinger aus Stemwede.

Artikel vom 21.10.2006