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Nichts zu spüren von
gelangweilter Routine

Görner mit Heines »Wintermärchen« auf x-ter Tournee

Von Rainer Maler (Text und Foto)
Paderborn (WV). Der Rezitator Lutz Görner ist ein Klassiker der modernen Interpretation von Gedichten mit einer besonderen Vorliebe für das Werk von Heinrich Heine. Wie souverän er sein Handwerk beherrscht, davon überzeugten sich rund 300 Zuhörer in der Paderhalle.

Vermutlich hat der Regisseur Sönke Wortmann an Heinrich Heine gedacht, als er seinem Film über das kollektiv erlebte WM-Fieber 2006 den Titel »Deutschland - ein Sommermärchen« gab. Was im Sommer 2006 mit dem dritten Platz endete, begann Ende 1843 mit einer Reise Heinrich Heines nach Hamburg. Der wegen seiner kritischen Gedichte in Preußen steckbrieflich gesuchte Heine kehrte nach Hamburg zurück, um seine Mutter und seinen Verleger Campe zu besuchen.
»Im traurigen Monat November war's, die Tage wurden trüber, der Wind riss von den Bäumen das Laub, da reist ich nach Deutschland hinüber«, so beginnt fast lakonisch »Deutschland. Ein Wintermärchen«. Anlass des Gedichtes ist die erste Reise Heinrich Heines nach Deutschland seit seiner Emigration nach Frankreich 1831. In 27 Kapiteln, Caput genannt, gibt Heine einen mal sarkastischen, mal melancholischen Einblick in die politischen Verhältnisse in Deutschland, die er in seinen wunderbaren Versen mit Stationen und Menschen seiner eigenen Biographie verknüpft.
Aus Vaterlandsliebe kritisierte Heine Militarismus und tumben Nationalismus, nahm obrigkeitshörige Rituale auf die Schippe. Sein kreativer Umgang mit der Sprache und die ironische Mischung haben den Reiz des Wintermärchens bis heute erhalten und an seiner Wiederentdeckung hat der Rezitator Lutz Görner großen Anteil.
Seit Mitte der siebziger Jahre rezitierte Lutz Görner bei Gastspielen in ganz Deutschland Gedichte und Texte von Goethe, Brecht, Tucholsky, Ringelnatz, Wilhelm Busch und weiteren Schriftstellern sowie Texte aus der Bibel. Von 1992 bis 1999 leitete Görner in Köln sein eigenes »Reziteater«, tourte zwischenzeitlich mit seinen Lyrikinterpretationen um die ganze Welt. Mehr als tausendmal habe er schon das Wintermärchen aufgeführt. Aber von gelangweilter Routine ist nichts zu spüren.
Görner interpretiert die Gedichte Heines jeweils mit dem richtigen Ton. Er setzt rheinische Mundart ein, wenn sich Vater Rhein im Gedicht zu Wort meldet, er schwäbelt, sächselt, er gibt den Wüterich und den säuselnden Jüngling, ohne lächerlich oder übertrieben zu wirken. Görner schafft es, Heines geschriebene Wörter lebendig werden zu lassen, er verleiht den Texten und ihren politischen Aussagen mit seinen Sprachmelodien eine Stimme, ein Gesicht.
Ganz nebenbei flicht er in seine Interpretation Hinweise zu handelnden Personen, Orten der Reise, Anekdotisches aus Heines Leben und Sterben in der Matratzengruft ein, wie Heine selbst seine Bettlägerigkeit nannte. Lutz Görner ist lebender Beweis, dass Lyrik zeitlos sein kann, wenn ihr Stimme und Gehör verschafft werden.

Artikel vom 20.10.2006