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Oma hatte bei seinem Anblick immer an ihre in Russland gefangenen Söhne Heinrich und Wilhelm denken müssen und hoffte, sie würden dort auch Menschen treffen, die gut zu ihnen wären. Elise und ihre Schwiegermutter hatten täglich darum gebetet, dass sie überleben und wieder nach Hause kommen würden.

Wenigstens zum Teil waren ihre Gebete erhört worden und Elises Mann, Wilhelm, war im März dieses Jahres nach Hause gekommen. Ihm war bei der Verladung der deutschen Gefangenen in die Waggons der Züge, die nach Sibirien fuhren, die Flucht gelungen. Halb verhungert, nur noch Haut und Knochen, mit aufgeblähtem Wasserbauch und Erfrierungen an den Füßen war er hier angekommen. Elise erinnerte sich noch genau an diesen Tag: Es hatte Schnee gelegen, Heinrich und Konrad waren dabei auf dem Hof einen Schneemann zu bauen. Sie selbst war gerade damit beschäftigt die Zwillinge zum Mittagsschlaf in ihre Betten zu legen, als Heinrich ganz aufgeregt ins Haus kam und im Flur nach ihr rief: „Mama, Mama, komm schnell raus, da kommt ein fremder Mann durch unseren Garten.“ Auch Konrad hatte sich ins Haus geflüchtet und klammerte sich an den Rücken seines großen Bruders. Sie war schnell die Treppe runter gelaufen und sah ihre beiden kleinen Helden ängstlich, mit roten Bäckchen und roten Nasen im Flur stehen. Es war wirklich ungewöhnlich, dass ein Fremder durch ihren Garten auf den Hof kam. Schließlich war die Hofeinfahrt von der Dorfstraße aus gut zu sehen. Während die kleine Gartenpforte an der Südseite des Hof- und Gartenanwesens sehr versteckt und für einen Fremden inmitten der Hecke nicht leicht zu entdecken war. Sie hatte die Jungen in die Küche zur Oma geschickt und war hinaus auf den Hof gelaufen.

Der Hof war ein großes Viereck: Rechts vom Hauseingang lagen die Pferde- Schweine- und Hühnerställe nach Süden hin, hinter denen sich der große Obstgarten den Hang hinaufzog. Gegenüber, zur Ostseite, standen der Kuhstall, die Futterküche und die Scheunen, der Schafstall und der Geräteschuppen. Hinter ihnen befanden sich die Remisen für die Kasten- und Leiterwagen und die Kutsche. Daran schloss sich die Pferdeweide an. Nach Norden hin bildete der Bach die natürliche Hofgrenze. Die Westseite wurde von dem Wohnhaus von Wilhelm und Elise und dem Wohnhaus der Schwiegereltern, Oma Elise und Opa Heinrich, zwischen denen die breite Hofeinfahrt lag, begrenzt. Am Ufer des Baches, standen drei große Kastanienbäume, die im Sommer herrlichen Schatten gaben und unter denen man wunderbar sitzen und dem Gemurmel des kleinen Baches lauschen konnte. Das Gelände fiel zum Bach hin etwas ab, sodass sich eine Furt zum andern Ufer gebildet hatte, die man mit dem Pferdewagen durchfahren konnte. Das Wasser war so niedrig, dass die Kinder dort ohne Gefahr spielen durften. Und auch die Gänse- und Entenschar, deren Stall zum Bach hin stand, wusste seine Nähe zu schätzen. In der Hofmitte lag, wie es typisch für hessische Bauernhöfe ist, der große Misthaufen, auf und um den herum der Hahn stolzierte, krähte und seine Hühnerschar sich mit scharren und gackern wichtig tat.

Als sie zum Kuhstall hin und dann rechts an Nussbüschen und Holzstall vorbei zum Garten hinauf gehen wollte, sah sie, dass eine abgerissene elende Gestalt gerade versuchte das große schwere Gartentor zu öffnen und wusste sofort, dass es Wilhelm war. So schnell ihre Beine sie trugen war sie die wenigen Meter zu ihm gerannt und hatte das Tor geöffnet. Halb ohnmächtig war er ihr in die Arme gefallen. Mit dem Zug war er bis Raumrode gekommen und dann zu Fuß die letzten fünf Kilometer bis nach Hause gelaufen. Nur mit Fußlappen an den Füßen. Es war schrecklich gewesen, die Fußlappen von den eiternden Frostbeulen abzuziehen. Der Anblick Wilhelms hatte ihr, der Schwiegermutter und Wilhelms Schwester Elisabeth die Tränen in die Augen getrieben. Sie hatten den Arzt kommen lassen und dann war noch zweimal wöchentlich die Gemeindeschwester gekommen um ihnen bei der Pflege und Behandlung Wilhelms behilflich zu sein. Sechs Wochen lang musste er streng das Bett hüten, bis er das erste Mal mit Hilfe eines Spazierstockes über den Hof und durch den Garten gehen konnte. Wie hatte er sich gefreut, als er seine beiden kleinen Mädchen sah, die Zwillinge Wilma und Helma, die während seiner Abwesenheit geboren waren. Und so glücklich war er gewesen, endlich Heinrich und Konrad wieder in die Arme nehmen zu können. Sie hatten zwar zu Anfang etwas gefremdelt, doch während er das Bett hüten musste, waren sie immer vertrauter geworden und jetzt hingen sie an ihrem Papa und er war sehr stolz auf seine beiden Söhne.
Jetzt wollten sie gemeinsam anpacken, denn der Krieg war endlich vorbei, der Hof stand noch, sie hatten ihre Milchkühe und Schweine sowie die beiden Arbeitspferde Hector und Paula, außerdem Schafe, Hühner und Gänse. Die Familie hatte genug zu essen, im Gegensatz zu den vielen armen Menschen in den Städten, die ausgebombt waren und Hunger litten. Sie kamen mit Rucksäcken in die Dörfer und tauschten die wenigen Wertsachen, die ihnen geblieben waren, gegen Lebensmittel. Oder die vielen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, die alles verloren hatten. Nicht nur ihr Zuhause und ihren Besitz, oft genug auch die Menschen, die sie liebten. Sie hatten teilweise Unvorstellbares auf ihrer Flucht erlebt hatten, so dass viele für den Rest ihres Lebens darunter leiden würden. Auch hier im Dorf waren in jedem Haus Flüchtlinge untergebracht. Im Haus der Schwiegereltern wohnten zwei Flüchtlingsfamilien im Obergeschoss, so dass Oma und Opa nur die beiden Räume im Erdgeschoss hatten. Darum musste Wilhelms unverheiratete Schwester Elisabeth auch mit im Haus ihres Bruders wohnen. Ihr Verlobter war schon im ersten Kriegsjahr gefallen und sie hatte seither nie wieder einen Mann gesehen, der ihr gefallen hätte. Wie auch, es gab ja kaum noch Männer. Entweder waren sie gefallen oder in Gefangenschaft. Und wenn Wilhelms und Elisabeths Bruder Heinrich hoffentlich aus der Gefangenschaft heimkehren würde, müsste er mit der kleinen Bodenkammer im sogenannten Ellerhaus vorlieb nehmen. So wurde das Haus von Oma und Opa Trebeis genannt und bedeutete Elternhaus.

Die beiden Flüchtlingsfamilien waren sehr nett, aber man war sich noch fremd, es würde wohl einige Zeit dauern, bis sich vielleicht so etwas wie Freundschaft entwickeln konnte. Es war schwer für diese Menschen, die ja im Osten Deutschlands ihre Häuser oder Höfe gehabt hatten, plötzlich als Bittsteller hier leben zu müssen. Sie bekamen zwar vom Land eine monatliche Unterstützung, aber das reichte wirklich nur für das allernötigste. Arbeit für so viele gab es noch nicht. Allenfalls konnten sie den Bauern bei der Feldarbeit helfen und dafür wenigstens die wichtigsten Lebensmittel bekommen. Die Gemeinde hatte eine große Ackerfläche zur Verfügung gestellt, sie in Parzellen aufgeteilt, so dass jede Flüchtlingsfamilie Anrecht auf einen kleinen Schrebergarten hatte, in dem sie Kartoffeln und Gemüse für den eigenen Bedarf anbauen konnte. Aber das würde erst im nächsten Jahr möglich sein. Diesen Winter mussten sie noch mit der Hilfe des Dorfes überleben. Die Einwohnerzahl Niederbachs hatte sich seit Kriegsende durch den Zuzug der Evakuierten, Flüchtlinge und Vertriebenen fast verdoppelt. In der Dorfschule, die nur aus zwei Räumen bestand, saßen die Kinder so eng beieinander, dass es unmöglich war, gegenseitiges Abschreiben zu verhindern. Die Kinder waren es auch, welche die Integration der Flüchtlingsfamilien beschleunigten. Ihnen fiel es leicht, aufeinander zuzugehen und Freundschaften zu schließen. Und über die Kinder fanden dann auch deren Eltern den Weg zueinander.
Ja, wenn man bedachte, welches Elend dieser Krieg angerichtet hatte und welch schreckliche Gräueltaten Menschen verübt hatten, musste man dankbar sein, dass man zu den Glücklichen gehörte, die nicht ihre Heimat verloren hatten. Wie konnte ein ganzes Volk sich so in die Irre führen lassen durch dieses hochmütige Wunschdenken, die besseren Menschen zu sein? Elise hatte sich nie für Politik interessiert und war, wie auch die Familie ihres Mannes, nie in die Partei eingetreten. Aber sie hatte, ebenso wie die Mehrheit des Volkes, durch ihr Desinteresse nicht bemerkt, wie aus einer Republik eine totalitäre Staatsform geworden war, eine Diktatur des Bösen.

Doch sie musste diese Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben, sie würde heute ihre Kinder sehen, nur das zählte jetzt. Elisabeth hatte ein kleines Püppchen für Wilma gestrickt, das steckte sie noch in die Tasche und für Heinrich ein kleines Holzpferdchen, das er besonders gern mochte. Wilhelm hatte es vor zwei Jahren geschnitzt, als er wegen der Getreideernte Fronturlaub bekommen hatte. Heinrich liebte dieses Pferdchen sehr, er hatte es sogar mit in die Schule nehmen wollen, als er eingeschult wurde. Es war schwer gewesen, es ihm auszureden.
Das Püppchen hatte Elisabeth erst in der letzten Woche gestrickt. Sie konnte wunderbar nähen und stricken, machte aus alten Bettbezügen Kleidchen für die Zwillinge und aus den noch heilen Stücken alter Männerhosen nähte sie Hosen für Heinrich und Konrad. Und sie strickte Pullover und Strümpfe für die Kinder. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.11.2006