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Die »Wiege der Aufklärung« erlebt

Reisegruppe aus dem Altkreis Lübbecke zu Besuch in Kaliningrad

Von Reinhard Stevener
Espelkamp (WB). Ostpreußen - ein Landstrich, der für viele Menschen ein Synonym für ein verschwundenes Paradies darstellt -Êwar jetzt Ziel einer Reisegruppe aus Espelkamp und dem Altkreis Lübbecke. Elf Tage erkundeten sie die malerische Gegend. Die ESPELKAMPER ZEITUNG berichtet in einer Serie über ihre Reise.

Die Fahrt in den russischen Teil Ostpreußens führte uns von Danzig zunächst durch die Niederungen des Weichseldeltas über Frauenburg am Frischen Haff - bekannt durch die Domburg aus dem 14. Jahrhundert, das »künstlerisch bedeutendste Werk der Kirchenbaukunst in Ostpreußen« - und Braunsberg bis zum polnisch-russischen Grenzübergang Heiligenbeil (Mamonovo). Hier stieg die russische Reiseleiterin Ludmilla Klimko aus Cranz zu, die uns bis nach Klaipeda (Memel) begleiten sollte.
Dank ihrer Hilfe gingen die komplizierten Grenzformalitäten problemlos über die Bühne und das russische Reiseabenteuer konnte beginnen. Die Hotelübernachtungen der nächsten Tage waren in Cranz gebucht - einst das größte Seebad Ostpreußens, heute jedoch nur noch ein Schatten vom Glanz vergangener Tage.
Am nächsten Tag stand Königsberg auf dem Programm. Die Burg »Conigsberg« wurde 1255 zu Ehren des Böhmenkönigs Ottokar II. errichtet, der bei der Eroberung des Samlands dem Deutschen Orden geholfen hatte. Drei Städte in der Nähe der Pregelmündung ins Frische Haff erhielten ihre Handfeste nach kulmischem Recht (Grundlage des deutschen Stadtrechts im Ordensgebiet): Die mächtigste von ihnen, die Altstadt, im Jahr 1286; der Löbenicht, eine Stadt der Handwerker und Ackerbürger im Jahr 1300; der Kneiphof auf der Pregelinsel, Quartier der Fernkaufleute, im Jahr 1327.
Erst dem preußischen »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. war es vorbehalten, diese drei Städte 1724 zur Stadt Königsberg zu vereinigen. In einem historischen Jahr: Am 22. April wurde Kant geboren - zu einer Zeit, in der Königsberg bereits 50 000 Einwohner zählte und Berlin gerade mal auf 25 000 Einwohner kam. Heute hat die Stadt etwa 430 000 Einwohner, die gesamte Kaliningrader Region etwa 950 000. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war Königsberg größtenteils deutsch, nur kurz während des Siebenjährigen Krieges durch russische Besatzung unterbrochen.
Umgeben von ostpreußischer Provinzialität entwickelte sich die Hansestadt zur Wiege der Aufklärung und später zu einer Hochburg der Romantik. Der Philosoph Immanuel Kant, der Königsberg zeitlebens kaum verließ, ist ihr berühmtester Sohn. Herder besuchte seine Vorlesungen. Der Barockdichter Simon Drach bereicherte das deutsche Volksgut mit dem »Ännchen von Tharau«. E. T. A. Hoffmann - Multitalent als Dichter, Komponist und Maler -Êsetzte ein Jahrhundert später mit »Kater Murr« den Königsberger Katzen ein Denkmal. Mitte des 19. Jahrhunderts erblickte die Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz in der Stadt das Licht der Welt. Agnes Miegel, die bedeutendste deutsche Balladendichterin, war auch nach der Vertreibung glühend ihrer verlorenen Heimat verbunden. Sie starb 1964 mit 85 Jahren hoch geehrt als »Mutter Ostpreußens« in Bad Salzuflen.
Die am Pregel gelegene Hauptstadt Ostpreußens macht heute noch einen betrüblichen Eindruck; darüber täuschen auch die Neubauten nicht hinweg. Das alte Königsberg gibt es nicht mehr. Die neue Stadt Kaliningrad erlebten die Reiseteilnehmer mit beklemmendem Interesse. Allerdings machen sich erste Lebenszeichen von einem Aufschwung bemerkbar. Das Land öffnet sich dem Westen, die Menschen haben mehr Freiheiten, Wohn- und Geschäftshäuser werden gebaut, Straßen, Wege und Plätze neu angelegt oder ausgebessert. Bemerkenswert ist auch, dass die wenigen noch vorhandenen alten Gebäude aus dem alten Königsberg - vornehmlich im ehemaligen Amalienhof - heute unter Denkmalschutz gestellt werden.

Artikel vom 13.10.2006