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Blinder Physiker tastet sich durch sein Leben

»Tag des weißen Stocks«: Konrad Gerull aus Bielefeld erkennt 100 Vogelarten an ihren Rufen und Gesängen

Von Keyvan Dahesch
Bielefeld (dpa). Das Physik- und Mathematik-Studium schaffte Konrad Gerull problemlos, doch für den Autoführerschein reichte es nicht: Seine Sehkraft war zu schwach. »Denn schon mit acht Jahren haben die Ärzte bei einer Augenuntersuchung bei mir den Beginn einer Netzhautzerstörung festgestellt«.

Heute ertastet der vor fünf Jahren erblindete Mathematiker geübte Wege mit einem weißen Stock. »Der weiße Stock ist unser wichtigstes Hilfsmittel und offizielles Schutzzeichen im Straßenverkehr«, sagt der 60-Jährige. Seit 42 Jahren werben Regierungen und Blindenorganisationen weltweit am 15. Oktober, dem »Tag des weißen Stocks«, um besondere Rücksichtnahme auf blinde Menschen im Straßenverkehr.
Der frühere US-Präsident Lindon B. Johnson hatte bereits 1964 den 15. Oktober zum »Tag des weißen Stocks« ausgerufen. Im Februar 1931 überreichte in Paris die Gräfin Guilly d'Herbemont dem Präsidenten der französischen Blindenorganisationen die ersten Exemplare. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leben weltweit derzeit mehr als 50 Millionen blinde Menschen.
Weil Gerulls Großvater an der erblichen Krankheit »Retinitis Pigmentosa« erblindet war, musste Gerull ständig seine Sehkraft ärztlich kontrollieren lassen. Doch trotz fortschreitender Gesichtsfeldausfälle und Erblindung gab es Erfolge: Am 31. März 1946 in Stadthagen geboren, besuchte er die Regelschule. In Wunstorf bei Hannover legte er das Abitur ab. Das an der Freien Universität in Berlin begonnene Studium der Mathematik und Physik setzte er in Tübingen fort.
Von den Anstrengungen erholte er sich auf Radtouren, »die ich noch ohne Hilfe bewältigen konnte«. Dabei erkundete er mit Freunden England und Schottland. »Bevor bei mir das Licht ganz ausging, radelte ich, von meinen Söhnen Michael und Roland begleitet, in Etappen von Trier über Koblenz nach Freiburg, Ulm und Wien«, sagt Gerull.
Nach der Promotion bekam er eine Anstellung als Lehrer und Forscher am Oberstufen-Kolleg der Uni Bielefeld. In der Versuchs-Schule wird die Oberstufe des Gymnasiums mit dem Grundstudium der Universität verzahnt. Mit der Erblindung ging Konrad Gerull Ende 2000 vorzeitig in den Ruhestand. »Und dennoch ist mir keine Minute langweilig«, betont der Hobby-Ornithologe. Viele Menschen beeindruckt er mit Vogelstimmenwanderungen: »Ich erkenne 100 Vogelarten an ihren Rufen und Gesängen«, sagt er. »Der Eisvogel macht kurze scharfe Rufe wie »iss, iss«, davon kommt der Name Eisvogel, und das Lied der Goldammer hört sich so an »zizizizizizi- däh"«, erklärt er.
Seit 1986 nimmt er mehrere Ehrenämter im Selbsthilfeverband »Pro Retina Deutschland« wahr. Als Hilfsmittelreferent testet er Produkte auf ihre Zugänglichkeit. Zum »Tag des weißen Stocks« fordert Gerull die Bürger auf, blinde Menschen auf der Straße zu fragen, ob sie Hilfe benötigten, statt sie wortlos am Arm zu packen und zu führen.

Artikel vom 12.10.2006