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Bulimie entleert die Seele

»Ich habe mich nie in mir heimisch gefühlt«: Esther (24) erzählt

Von Matthias Band
Bad Oeynhausen(WB). Esther ist 24 und eine attraktive junge Frau. Doch sie weiß nicht, wer sie ist, wohin sie gehört. Sie sagt, sie sei immer anders gewesen als die anderen.

Jetzt sitzt sie auf der Terrasse der Fachklinik für gestörtes Essverhalten und erzählt. Erzählt von ihrem Leben. Davon, wie alles angefangen hat. Wie sie sich das erste Mal vollfraß, sich danach den Finger in den Hals steckte, um alles wieder zu erbrechen. Esther hat Bulimie - seit elf Jahren.
»Kurz bevor ich in die Klinik kam, wog ich 47,5 Kilogramm bei 1,73 Meter Körpergröße«, sagt Esther. Seit vier Wochen ist sie bereits in der Klinik am Korso. »Die ersten 14 Tage sind oft sehr schwierig für die Patienten«, erklärt Chefarzt Dr. Georg Ernst Jacoby. Es ist die so genannte Sperrzeit, in der die Patienten zu sich selbst finden sollen. Kein Ausgang, reglementierter Tagesablauf. »Es geht auch darum, akute Fressattacken zu verhindern«, erläutert Dr. Jacoby.
Zweieinhalb Kilo hat Esther mittlerweile zugenommen. »Sie muss lernen, ihren Körper wieder zu akzeptieren, auf ihren Bauch, ihre Impulse zu hören«, sagt die Gestaltungstherapeutin Ingrid Seidel. Das hat Esther verlernt.
»Ich wusste nicht, wer ich bin, was mir liegt. Ich habe mich nie in mir heimisch gefühlt«, sagt sie. Esther spricht von emotionaler Instabilität, von unterdrückten Intuitionen. Sie ist sehr analytisch, versucht alles zu durchleuchten und zu hinterfragen. Vor allem ihr eigenes Leben: Mit zwölf Jahren hatte sie ihren ersten Freund, von dem sie sich alles bieten lassen hat, weil sie auf ihn fixiert war. »Ich war extrem frühreif. Ich bin damals unheimlich auseinandergegangen und war sehr unzufrieden mit meinem Körper. Ich hatte kein Selbstwertgefühl.«
Ihre Mutter hatte früh gemerkt, dass Esther ihr Essen wieder erbricht. »Als sie mich darauf ansprach, habe ich total abgeblockt. Ich habe ihr zwar versprochen, dass ich damit aufhöre. Aber ich konnte nicht.«
Heimlich habe sie weiter gemacht. »Tagsüber habe ich manchmal nur einen Apfel oder einen Pfirsich gegessen. Abends habe ich mich dann vollgefressen. Irgendwann musste ich mir nicht mal mehr den Finger in den Hals stecken. Es ging wie von selbst.«
In der Gestaltungstherapie lernt Esther , sich selbst auszudrücken, das zu tun, was ihr Spaß macht. Sie fertigt gerade eine Skulptur - einen wohlgeformten Frauenkörper. »Das Malen und die Kunst hilft den Patienten, sich über ihre Probleme und Verunsicherung bewusst zu werden«, erklärt Ingrid Seidel.
Nach dem Klinikaufenthalt möchte die gelernte Englisch-Übersetzerin Kunst, Musik und Medien in ihrer Geburtsstadt Marburg studieren. Vor zwei Jahren war sie schon einmal zur Therapie. »Auf 65 Kilo haben sie mich damals vollgestopft und mich dann völlig allein gelassen«, sagt Esther. Nach kurzer Zeit habe sie wieder mit »dem Kotzen« angefangen. Jetzt hofft sie, dass sie ihre Krankheit in den Griff bekommt.
»Etwa die Hälfte unserer Patienten schafft es auf Dauer, die Krankheit zu besiegen«, erläutert Dr. Jacoby.
l In der Oktober-Galerie zeigt das WDR-Studio in Bielefeld, Detmolder Straße / Lortzingstraße, Arbeiten der Patienten aus der Klinik am Korso. Zeichnungen, Bilder und Texte erzählen von Ängsten und Hoffnungen.

Artikel vom 30.09.2006