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Tragisch und komisch zugleich

Roger Willemsen nimmt 350 Zuhörer mit auf seine »Afghanische Reise«

Werther (dh). Kabul, Kalaschnikovs, Kinos und Käse: Sie ist wirklich abwechslungsreich, die »Afghanische Reise«, zu der der Autor Roger Willemsen mit etwa 350 Zuhörern in der ausverkauften Aula der Gesamtschule aufbricht. Humor und Ernst, Witz und Tragik liegen an diesem Abend so eng beieinander wie nur selten.

Ein kleiner Tisch mit gelb-roter Decke und einem Buch, ein schwarzer Stuhl und ein Glas Wasser. Doch Roger Willemsen braucht diese Utensilien am Mittwochabend nicht. Der große, schlanke Mann im dunkelblauen Nadelstreifenanzug bleibt lieber stehen, geht auf der Bühne auf und ab, setzt auf Mimik und Gestik. Seine klare Ansage »Mir juckt die Schnauze« setzt er auch um. Er redet und redet und redet. . .
Roger Willemsen zeigt sich gerührt, »dass sich einige hundert Menschen an einem so lauschigen Sommerabend für Afghanistan interessieren«. Vereinzelt müssen seine Zuhörer sogar auf der Treppe sitzen. »Das Wichtigste, was wir diesem vom Krieg gezeichneten Land schenken können, ist die Großherzigkeit der Aufmerksamkeit«, sagt er.
Gemeinsam mit einer exilierten afghanischen Freundin war Roger Willemsen in das Land am Hindukusch gereist. In seinem Buch »Afghanische Reise« schildert er seine Erfahrungen und Erlebnisse. Wer den 51-Jährigen in Werther erlebt, hat nach dem eineinhalbstündigen Monolog das Gefühl, als habe jemand eine Klappe geöffnet. Die Erzählungen sprudeln nur so heraus, und kurz nach 21 Uhr wird die »Klappe« wieder geschlossen. Der Autor, zur ersten Riege der Intellektuellen in Deutschland zählend, spricht in einem unglaublichen Tempo, schöpft aus einem unendlich reichen Wortschatz. Und wer denkt »Jetzt hat er den roten Faden verloren!« muss erkennen, dass jeder seiner Sätze - so lang er auch sein mag - druckreif ist.
Willemsen will seinen Zuhörern das legendenumwobene Afghanistan näher bringen. Das Land, das viele nur als kriegserschüttert, verwüstet und düster kennen - er will es differenzierter vorstellen. Und so erzählt der Autor von einem kleinen Jungen, der bei mehr als minus 20 Grad in Flip Flops durch den Schnee marschiert, um Wasser für seine Familie zu holen. Er erzählt von Kindern, die den Unterschied zwischen Spielen und der Arbeit auf dem Feld nicht kennen, oder von jungen Mädchen, die nicht wie Britney Spears sein wollen, sondern alphabetisiert werden wollen.
»Ich glaube, jede zweite Männerhand, die ich in Afghanistan geschüttelt habe, hat jemanden getötet«, sagt der 51-Jährige und erzählt vom Treffen mit einem Nomaden, der ein wochenaltes Stück Ziegenkäse mit ihm teilte. Fast schon theatralisch, nahezu comedyreif war diese Episode - und doch so ernst. Genau wie das Treffen mit einem ehemaligen Guantanamo-Häftling. Am Stadtrand von Kabul, nachts, in einem Hinterhof, den kurz zuvor zwei Männer mit Kalaschnikovs gestürmt hatten. Auch hier spielt Willemsen mit Selbstironie, spricht vom »Susanne-Osthoff-Preis für besonders dämliche Entführungen«, den er dort verdient hätte.
Roger Willemsen hat sein Publikum gefesselt. Ob Geschichten zum Schmunzeln oder zum Weinen - der Autor kann beides miteinander verbinden, ohne die Ernsthaftigkeit ins Banale oder Lächerliche abgleiten zu lassen. Tragik und Komik gehören zusammen - auch in Afghanistan.

Artikel vom 29.09.2006