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»Esmeralda« und »Cameo«
toben durch das Gelände


Nachbarn halten zu Familie Vogt

Von Wolfgang Sprentzel
Schnathorst/Altkreis (WB). Seit drei Wochen haben Freunde der Fotografie an der Bergstraße in Schnathorst ein besonderes Motiv entdeckt. Oder besser drei: Denn auf der Weide direkt am Berghof leben ganz friedlich miteinander zwei Ponys und - ein Wildschwein.

In der Welt der Fabeln werden immer wieder Geschichten erzählt, in denen die verschiedensten Tiergattungen sich miteinander unterhalten, mehr oder weniger lehrreiche Auseinandersetzungen bestehen, die letztlich in die Menschenwelt übertragen werden. Da kommt's schon einmal vor, dass Frösche sich mit Störchen unterhalten, dass der schlaue Fuchs die Krähe oder die Hühner zu überlisten versucht. Fast immer gehen die Geschichten gut aus und so mancher Mensch sagt sich im Stillen: »Eigentlich ist das doch gar nicht möglich. Eigentlich sind diese Tiere doch in Wirklichkeit einander feind, gehen sich aus dem Wege, wann immer sie können, hat der eine Angst davor, vom anderen gefressen zu werden oder umgebracht zu werden.«
Das gilt in der Realität sicherlich auch für Pferde, die gegenüber beispielsweise einem Wildschwein in der Regel eher sehr, sehr vorsichtig sind. Reiter, die regelmäßig mit ihren Vierbeinern in den Busch gehen, wissen davon ein Liedchen zu singen, wissen die Anzeichen durchaus zu deuten, wenn im Wald das Reittier plötzlich sehr, sehr unruhig wird, die Ohren spitzt und zu schnauben beginnt. Gefahr ist im Verzug. Nicht selten kreuzt dann plötzlich eine Rotte wilder Schweine oder ein einzelner Keiler den Weg, Nein, mit Wildschweinen haben Pferde wenig am Hut, sind eher sofort zur Flucht bereit. Die Regel.
Doch auch hier, und nur wenige halten dies für möglich, gibt es die berühmten Ausnahmen, die diese Regel bestätigen. Wie jetzt in der kleinen Gemeinde Schnathorst am Rande des Wiehen.
Dort leben an der Bergstraße, die von Schnathorst über das Wiehengebirge nach Nettelstedt führt, Matthias Vogt (46) und Ute Müller (34) seit dem Jahr 2001 auf dem Berghof, einem kleinen Anwesen. Natürlich nicht allein. Mit ihnen wohnt dort der große eineinhalb Jahre alte Bernhardiner-Rüde »Josef«, der im Zwinger die Wacht hält. Außerdem stehen in den Stallungen der vierjährige Mini-Shetty-Hengst »Cameo« und der 16-jährige Wallach »Ivan«. In einem abgetrennten Teil des Gartens tummeln sich einige Hühner und Enten sowie in einem weiteren abgeteilten Teil ein Doggen-Mix-Rüde, eine Dalmatiner-Hündin sowie eine Labrador-Hündin mit einigen niedlichen, acht Wochen alten Welpen. Letztere sind mehr oder weniger zu Besuch, warten darauf, weiter vermittelt zu werden. Ach ja, und dann gibt's noch neun Katzen, die ihr Zuhause auf dem Berghof haben. Eine kleine Arche Noah also, die seit etwa 14 Tagen Zuwachs bekommen hat, der wirklich nicht alltäglich ist.
Der Zuwachs heiß »Esmeralda« und ist - ein Wildschwein. Und es hat mit den beiden Hof-Pferden Freundschaft geschlossen. Besonders angetan ist das Wildschwein vom kleinen Hengst »Cameo«. Es weicht ihm fast nie von der Seite. Die Freunschaft geht inzwischen so weit, dass das Borstenvieh jeden Morgen auf den Hof kommt, bei »Cameo« am Fenster steht, vor sich hingrunzt und darauf wartet, dass Ute Müller die Pferde auf die Weide führt. »Dann toben Esmeralda und Cameo erst einmal richtig durchs Gelände.«
Anschließend widmet sich jeder seiner Lieblingsbeschäftigung. Der eine, »Cameo«, beginnt Gras zu fressen, die andere, »Esmeralda«, pflügt mit ihrer Nase auf der Suche nach Würmern und Käfern die Weide um. Oder sorgt dafür, dass sich Ute Müller und Matthias Vogt ein wenig ärgern. Und zwar, wenn sie sich den Gartenteich - oder besser: den früheren Gartenteich - vornimmt. Lacht Matthias Vogt: »Tja, unser Gartenteich war früher mal ein echtes Biotop - heute ist es eher ein Biotod.« Die Wildsau hat innerhalb von 14 Tagen aus dem Teich eine Suhlstätte gemacht.
Trotzdem haben Ute Müller und Matthias Vogt die kleine »Esmeralda« in ihr Herz geschlossen. Schließlich ist das Wildtier fast schon zahm. Ute Müller kann es sogar anfassen. Natürlich mit der gebotenen Vorsicht. »Denn man kann ja nie wissen und darf nie vergessen, dass Wildschweine gefährlich werden können.«
Wo das Einzeltier herkommt? »Da können wir nur vermuten. Ich schätze, dass es aus einer Rotte stammt, die im Sommer die Gegend unsicher gemacht hat und eventuell von einem Jäger erlegt worden war. Wir glauben, dass die Rotte aus einem Wildgehege ausgebrochen oder entlassen worden ist. Menschen scheint Esmeralda offensichtlich schon zu kennen.«
Zunächst war »Esmeralda« auf einem anderen Hof in Schnathorst aufgetaucht. Auch dort suchte sie die Nähe zu Pferden. Dem Hauseigentümer war die Situation aber zu unheimlich. Ein Wildschwein mitten in der Siedlung, das noch dazu anfing, die Vorgärten umzuwühlen? Nein, das ging nun wirklich nicht.
Was aber tun? Die rettende Idee war ein Ausritt. Also wurde der hauseigene Araber gesattelt und ins Gelände aufgebrochen. »Esmeralda« im Gefolge. Und als das Trio weit genug vom heimatlichen Herd entfernt war, gab der Reiter dem Pferd die Sporen, raste im Galopp davon. »Esmeralda« versuchte zwar im Schweinsgalopp Anschluss zu halten, letztlich folgen konnte sie dem viel zu schnellen Duo aber nicht und fand sich plötzlich allein am Berghof wieder. Da hatte die Wildsau die Verfolgung offensichtlich aufgeben müssen. Arme Sau!
Doch denkste! Die Berghof-Pferde wurden schnell als Ersatz ausgemacht. Besonders das weiße Shetty-Pony - in Wahrheit ein Falbe (Vogt: »Im Winter wird der richtig dunkel, sieht man deutlich den dunklen Streifen auf dem Rücken.«) - war sofort der Favorit. Und heute sind die beiden ein Herz und eine Seele. Morgens holt »Esmeralda« das Pony zum Spielen ab, abends geht sie mit von der Weide, folgt »Cameo« sogar in den Stall, schläft sogar in der Nähe der Box und verschwindet irgendwann des nachts wieder durch das offene Fenster des Stalles.
»Pflegeleicht!«, stellen Ute Müller und Matthias Vogt unisono fest. Aber sie haben Sorgen. Sorgen um das Leben des Jungtieres. Matthias Vogt: »Denn der Jäger, der wahrscheinlich damals die ganze Rotte erlegt hat, scheint ganz heiß auf neuen Wildschweinbraten zu sein. Jedenfalls haben wir Joseph in den frühen Morgenstunden schon einen Riesenlärm veranstalten hören, haben anschließend frische Reifenspuren auf unserem Gelände gefunden. Kann schon sein, dass da nachts einer mit ner Taschenlampe ums Haus herumschleicht, um unser Borsti ausfindig zu machen.«
Ganz Schnathorst steht hinter Matthias Vogt und Ute Müller. Die Bürger haben bereits bei den Jägern interveniert, doch »Esmeralda« bitte schön in Ruhe zu lassen. Einen hochoffiziellen Fürsprecher hat sie in Hüllhorsts Bürgermeister Wilhelm Henke: »So lange sich Esmeralda friedlich verhält, niemand Angst vor ihr haben muss, ist sicherlich nicht einzusehen, dass man auf sie Jagd macht. So lange es aber frei herum läuft, lebt es eben mit einem großen Risiko. Einmal könnte es vor ein Auto laufen und letztlich kann ich es keinem Jäger verbieten, auf das kleine Schwein zu schießen. Am besten wär's doch wohl, das Tier wieder in ein eingezäuntes Gehege zu bringen. Die Überlebenschancen wären da ungleich größer.«

Artikel vom 20.09.2006