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Quälende Frage: Warum?

Geschwister trauern um ihren getöteten Vater

Von Ingo Schmitz
Höxter (WB). Wilhelm Linnenberg (79) und Christel Mevers (81) waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Die gewaltige Explosion riss die beiden Rentner in den Tod. Zum Jahrestag hatte das WESTFALEN-BLATT nun erstmals die Gelegenheit, mit den Hinterbliebenen der Opfer Exklusiv-Gespräche zu führen.

»Die quälendste aller Fragen ist die Frage nach dem Warum. Die beschäftigt mich immer wieder«, sagt Bernadette Potthast. Die Altenbergenerin, ihre Schwester Christa Rehker sowie die beiden Brüder Georg und Dieter sind noch längst nicht über den gewaltsamen Tod ihres Vaters hinweg: »Wir alle müssen irgendwann gehen. Aber die Art und Weise, wie er ums Leben gekommen ist, kann man nicht begreifen.«
Der in Albaxen geborene Wilhelm Linnenberg war in seinem Dorf bekannt und beliebt. Lange Jahre fungierte er als Vorsitzender des Heimkehrerverbandes, war unternehmungslustig und gesellig und gesundheitlich gut dabei. Trotz des schmerzlichen Verlustes seiner Frau Maria vor zehn Jahren gab er sich nicht auf.
Der gelernte Maurer, der bis zu seiner Rente bei der Firma Reitz arbeitete, fand sogar eine neue Bekannte, mit der er die Wochenenden in Bad Pyrmont verbrachte. »Wäre er an dem Wochenende vor der Explosion ebenfalls dort gewesen, würde er heute noch leben«, meint Christa Rehker.
Wegen eines Arzttermins am frühen Montagmorgen aber hatte der 79-Jährige seine Bekannte nicht besucht und war in Albaxen geblieben. Dieser Termin, den er wegen seiner Knieprobleme vereinbart hatte, sollte ihm zu Verhängnis werden. Hautnah erlebte Bernadette Potthast, die in einer Rechtsanwaltskanzlei ganz in der Nähe des Hartmann-Hauses arbeitet, die Explosion mit. Dass ihr Vater unter den Opfern sein könnte, daran dachte sie zunächst nicht. »Ich wusste gar nicht, dass er nach Höxter wollte«, sagt die Altenbergenerin. Erst als ihre Schwester Christa sie besorgt anrief, machte sich Bernadette Potthast auf die Suche nach dem 79-Jährigen.
»Auf dem Marktplatz herrschte eine gespenstische Atmosphäre. Überall waren Helfer im Einsatz. Überall lagen Scherben. Als ich nach meinem Vater fragte, brachte man mich in einen Rettungswagen. Ich ahnte, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Dort hat man mir die Nachricht von seinem Tod überbracht«, erinnert sich Bernadette Potthast. Ihre Schwester Christa wurde von einem Bruder telefonisch benachrichtigt. »Das war schrecklich. Ich war alleine zu Hause«, berichtet Christa Rehker, die ebenso wie ihre Schwester mit den Tränen kämpfen muss.
Seit der Explosion war Christa Rehker nicht mehr am Tatort. »Ich kann da nicht hingehen«, sagt sie. Am heutigen Dienstag wird sie dennoch gemeinsam mit ihrer Familie an der Gedenkfeier teilnehmen. »Wenn wir zusammen sind, habe ich die Kraft dafür«, sagt die Tochter des Todesopfers, die immer noch nicht begreifen kann, wie Günther Hartmann eine solche Wahnsinnstat begehen konnte: »Das war keine Kurzschlussreaktion, sondern von langer Hand geplant. Wie konnte er so viele andere Menschen mit ins Unglück stürzen? Und das alles nur wegen eines Hauses!«
Das schreckliche Ereignis ist für die Geschwister stets präsent. Bernadette Potthast: »Wenn ich montags in meinem Büro bin, ist es besonders schlimm.« Beim Großeinsatz wegen des herrenlosen Koffers am Höxteraner Bahnhof habe sie erneut große Angst verspürt: »Mir schlug das Herz bis zum Hals.«
Wegen seiner Kriegserfahrungen habe Wilhelm Linnenberg stets gesagt: »Deine eigenen Füße tragen Dich dahin, wo der Tod Dich finden soll.« Niemand konnte vor dem schrecklichen Ereignis ahnen, dass sich dieses Sprichwort für ihn auf so dramatische Weise bewahrheiten würde.

Artikel vom 19.09.2006