14.09.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Den Zugang zu seinen Gefühlen finden

Notfallseelsorger und Psychologen hatten nach der Explosion alle Hände voll zu tun

Von Wolfgang Braun
Höxter (WB). Die Verletzungen, die 40 Frauen und Männer bei der vorsätzlich herbeigeführten Sprengung eines Hauses in der Höxteraner Altstadt erlitten haben, sind verheilt. Dass die seelischen Wunden bei vielen ebenfalls vernarben konnten, dafür sorgten Notfallseelsorger wie Dieter Maletz, Psychologen und Psychotherapeuten wie Silke und Uwe Bohlmann. Das WESTFALEN-BLATT behandelt in dieser Serie zum Jahrestag den 19. September und seine Folgen.

Dieter Maletz erinnert sich noch sehr gut an den Moment, als ihn bei einem Pfarrertreffen im Kloster Herstelle der Anruf mit der Nachricht von der Explosion erreichte: »Mein erster Gedanke war, hoffentlich ist meiner Frau nichts passiert, die an diesem Morgen zur Buchhandlung Henze wollte.« Als er sehr rasch dann nach Höxter kam, war der Ort der Explosion schon weiträumig abgesperrt, kündeten die vielen Krankenwagen und Polizeifahrzeuge von den Dimensionen der Katastrophe.
Er und andere Notfallseelsorger waren dann, nachdem das eigene Entsetzen überwunden war, sehr bald auf dem Marktplatz unterwegs und hielt nach Menschen Ausschau, die verwirrt und hilfsbedürftig wirkten. Dann übernahm der die schwere Pflicht, den Angehörigen des bei der Explosion getöteten Rentners die Todesnachricht zu überbringen. »Im Gegensatz zu Beamten können wir den Trauernden sagen, wir haben sehr viel Zeit für Euch«. Bei diesem und bei vielen anderen Gesprächen sei nach dem Schock sehr schnell auch der Gedanke an den Mann ins Spiel gekommen, der die Explosion herbeigeführt hatte: »Wie kann ein Mensch nur so etwas tun?«; diese bohrende, letztlich nicht zu beantwortende Frage sei ihm von vielen gestellt worden, erinnert sich der Seelsorger. Dabei werde auch sehr, sehr viel Wut auf diesen Günther Hartmann wach, der die Vernichtung der Existenz anderer Menschen, der die Zerstörung ihrer Gesundheit und ihres Eigentums in Kauf genommen habe, weil er als Schlusspunkt von Erbstreitigkeiten mit seinem Bruder sich und den Besitz, um den es ging, auslöschen wollte. Maletz selbst kannte Hartmann nur vom Sehen, aber aus Erzählungen anderer wusste er, dass er ein sehr einsamer und sehr verbitterter Mensch hatte gewesen sein müssen.
In den seelsorgerlichen Gesprächen, die der Geistliche führte, zeigte er auch den Betroffenen auf, was sie erwarten kann: Gewissermaßen machte er sie mit dem Normalen im Unnormalen vertraut, dass sie damit rechnen müssen, möglicherweise von Schlaflosigkeit, Herzrasen oder Appetitlosigkeit, Antriebsschwäche und Abgeschlagenheit heimgesucht zu werden: Symptome eines Stress-Syndroms, das nach solch schlimmen Ereignissen auftreten kann.
»Das Fatale ist, dass davon Betroffene unmittelbar nach dem Ereignis noch nichts spüren. Wenn die Erkrankungszeichen auftreten, werden sie häufig nicht mehr mit den schlimmen Erlebnissen in Beziehung gesetzt«, erläutert Diplom-Psychologe Uwe Bohlmann, der sich mit seiner Frau Silke und anderen Psychologen und Psychotherapeuten nach der Katastrophe vom 19 September 2005 um Traumatisierungsopfer kümmerte.
Während ein Notfallseelsorger wie Maletz gewissermaßen punktuell, wie er sagt, hilft und einem Traumatisierten zur Seite steht, bis dieser sich wieder gefangen hat, bis er also einen stabilen Eindruck macht, betreuen Psychologen und Psychotherapeuten längerfristig. Etwa zwölf Patientinnen und Patienten wurden von dem Ehepaar Bohlmann behandelt. Auch dabei ging es darum, die Kraft des Betroffenen zu mobilisieren, wieder selbst mit der belastenden Situation klar zu kommen.
Uwe Bohlmann selbst ist die eigene Angst noch gegenwärtig, die er am Morgen des 19. September um Freunde hatte, die in der Nähe des Explosionsortes wohnten. Den Zugang zu seinen Gefühlen in der Situation zu finden, über sie sprechen zu können, das sei der erste Schritt der Therapie. Und »Viele der Betroffenen leiden unter sehr zwiespältigen Empfindungen. Sie hadern damit, dass ausgerecht sie so etwas erleiden mussten, sie verbieten sich aber jedes Gefühl der Freude, weil sie Angst haben, ihnen würde dann Schlimmes zustoßen.« Ein ganz wichtiges Thema in der Behandlung sei, Freude wieder zuzulassen und damit zu der alten Lebensqualität zurückzukehren.
Maletz als Seelsorger, der seine Hilfe aus christlicher Nächstenliebe anbietet, weil Menschen in Not sind, und das Psychologenehepaar Pohlmann sehen die Krise auch als Chance, die ein so unfassbares Ereignis wie das Inferno vom 19. September auslösen kann. »Durch die Konfrontation mit einem so bedrohlichen Geschehen wird der Wert des Lebens wieder deutlich. Schlagartig ist das Bewusstsein da, dass das Leben endlich, dass jede Minute wertvoll ist«, sagt Uwe Bohlmann. »Wir erfahren bei solchen Katastrophen: Es gibt Dinge, die haben wir nicht in der Hand«, hat Notfallseelsorger Dieter Maletz beobachtet. Und: Noch nie habe er so viel von Schutzengeln reden gehört, wie in diesen Tagen nach dem 19. September. Denn: Viele hätten das Gefühl gehabt, jemand habe schützend die Hand über sie gehalten.
In Folge fünf der WESTFALEN-BLATT-Serie »Die Explosion Éein Jahr danach« am Freitag, 15. September, kommt Rechtsanwältin Bianca Bludau zu Wort. Sie hat den Verursacher des Unglücks unmittelbar vor der Tat gesehen und angesprochen.

Artikel vom 14.09.2006