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Erste Reifeprüfung nach dem Krieg

Abschluss des »Sonderlehrgangs für Kriegsteilnehmer zur Erlangung der Hochschulreife«

Warburg (WB). Vor genau 60 Jahren, am 14. September 1946, hat der erste Lehrgang nach dem Krieg am Gymnasium Marianum das Abitur bestanden. An diese Zeit an der Städtischen Oberschule für Jungen, wie das Marianum damals genannt wurde, erinnert sich Waldemar Becker aus Bad Driburg noch sehr gut Er war einer der Absolventen. Für das WESTFALEN-BLATT schildert der pensionierte Pädagoge seine Erlebnisse:

Die Erinnerung an jene Jahre, die eine Zeit des völligen Neubeginns waren, hat sich tief eingeprägt. Der Krieg war, als wir auf die Schulbank zurückkehrten, erst ein gutes halbes Jahr vorher zu Ende gegangen, und wir waren erst wenige Wochen oder Monate zuvor aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen.
Auch in Warburg waren die Spuren des Krieges noch deutlich zu sehen. Mehrere Häuserruinen am Rotthof und ein zerstörtes deutsches Sturmgeschütz an der Straße, die in der Nähe des Krankenhauses von der Neustadt zur Altstadt führt, erinnerten an die Kämpfe am Kriegsende.
Wir Luftwaffenhelfer des Jahrgangs 1927 hatten nach der Versetzung in die Klasse 8, der letzten Klasse des Gymnasiums vor unserer Einberufung zum Reichsarbeitsdienst beziehungsweise zur Wehrmacht, am 21. September 1944 den Reifevermerk, auch Kriegsabitur genannt, erhalten. Damit war uns wegen der durch den Krieg bedingten besonderen Umstände das Reifezeugnis ohne schriftliche und mündliche Prüfung zuerkannt worden.
Dieser Reifevermerk reichte jedoch nach Kriegsende für die Aufnahme eines Hochschulstudiums nicht aus. Dazu war die Teilnahme an einem »Sonderlehrgang für Kriegsteilnehmer zur Erlangung der Hochschulreife« notwendig. Ein solcher Lehrgang, an dem auch ich teilgenommen habe, hat am 15. Januar 1946 in Warburg begonnen.
Da in den letzten Kriegsjahren mehrere Jahrgänge den Reifevermerk erhalten hatten, waren wir am Anfang des Lehrgangs mehr als 80 Schüler und Schülerinnen. Deshalb mussten zwei Gruppen eingerichtet werden. Der älteste Teilnehmer war Paul Neuhaus mit 24 Jahren, der es in der Wehrmacht schon bis zum Hauptmann gebracht hatte. Vom Hauptmann bis zum einfachen Soldaten waren alle Wehrmachtsdienstgrade in den beiden Lehrgängen vertreten. Viele Teilnehmer trugen noch geänderte und umgefärbte Wehrmachtsuniformen. Ich war mit 18 Jahren am Anfang des Kurses einer der jüngsten Teilnehmer.
Weil unsere alte »Penne« durch Fremdarbeiter zum Teil demoliert worden war und Anfang 1946 auch als Notaufnahmelager für Vertriebene benutzt wurde, fand der Unterricht zunächst in der Mädchenmittelschule auf der Hüffert und später im ehemaligen Schülerwohnheim, dem »Kasten« neben der Altstädter Pfarrkirche, statt.
Der Unterricht mit 27 Wochenstunden wurde vor allem in den Hauptfächern erteilt. Dabei konnten die Absolventen zwischen Mathematik und einer sprachlichen Arbeitsgemeinschaft mit Englisch und Französisch wählen. Die Fächer Geschichte und Biologie standen auf Anordnung der englischen Besatzungsmacht noch nicht wieder auf dem Stundenplan, weil die Fachlehrer und Lehrbücher erst noch »entnazifiziert« werden mussten.
Für uns waren die Monate des Abiturlehrgangs ein wichtiger Abschnitt unseres Lebens und unserer Entwicklung, denn wir mussten uns völlig neu orientieren. Die meisten Ideale, die uns in den Jahren zuvor in der Schule, in der Hitler-Jugend und beim Militär gepredigt worden waren, hatten sich als fragwürdig oder falsch erwiesen. Wir waren nun davon überzeugt, dass eine Rückbesinnung auf christliche Werte nötig sei. Dabei kam dem Religionsunterricht bei Professor Schauerte, den wir liebevoll nur »Onkel Nu« nannten, besondere Bedeutung zu.
Im Deutschunterricht haben wir uns sehr eingehend mit Gedichten und Dramen Goethes beschäftigt. Vor allem die Gestalt der Iphigenie und ihr letztlich unbedingtes Bekenntnis zur Wahrheit wurden Vorbild und Verpflichtung. Neben dem Unterricht waren für mich die Predigten der Patres des Dominikanerklosters, neben dem ich bei Familie Neubold in der Kriminixstraße direkt gewohnt habe, weitere Orientierungshilfen.
Wegen des häufigen Unterrichtsausfalls in den Kriegsjahren war unser Wissen in den einzelnen Fächern recht lückenhaft. Wir mussten deshalb fleißig büffeln, um die vom Schulkollegium in Münster geforderten Leistungen zu erbringen. Zahlreiche Teilnehmer der beiden Lehrgänge mussten aufgeben und abgehen oder wurden in einen Lehrgang, der erst im Frühjahr 1947 die Reifeprüfung ablegen sollte, zurückversetzt. Andere hatten vor ihrer Einberufung zur Wehrmacht nicht lange genug die Obersekunda besucht und wurden deshalb zurückversetzt. Der Lehrgang A ist deshalb bis zur Abiturprüfung, die dann nach acht Monaten stattfand, auf etwa die Hälfte und unser B-Kurs auf nur noch 13 Absolventen zusammengeschrumpft.
Trotz der hohen schulischen Anforderungen haben wir versucht, in der eng bemessenen Freizeit persönliche Kontakte zu pflegen. Dazu gehörte auch ein Tanzkursus, der anfangs im benachbarten Wormeln und später, nachdem englische Soldaten das »Hotel zum Desenberg« geräumt hatten, im dortigen Saal stattfand. Dabei wurde die von der Besatzungsmacht verordnete Sperrstunde, die ab 22.30 Uhr, später ab 23.30 Uhr, galt, als sehr störend empfunden. Ein Übertreten der Sperrstunde, deren Einhaltung englische Militärfahrzeuge kontrollierten, konnte ein paar Wochen Gefängnishaft zur Folge haben. Dieser Tanzkursus musste jedoch verkürzt werden, als bekannt wurde, dass die Abiturprüfung vier Wochen früher als erwartet erfolgen sollte.
Ab 31. August 1946 fand dann die Reifeprüfung in drei Fächern statt. An das Thema der Deutscharbeit erinnere ich mich noch sehr genau. Es lautete: »Ist die Zugehörigkeit Iphigenies zum Tantalidengeschlecht erkennbar?« Diese Aufgabe erwuchs aus dem vorhergehenden Unterricht und war deshalb ohne weiteres zu lösen. Schwieriger war die schriftliche Lateinprüfung, in der ein Text Ciceros zu übersetzen war.
Vom 12. bis 14. September 1946 war die mündliche Reifeprüfung unter Vorsitz von Oberschulrat Goldmann aus Münster, der von Lehrern und Schülern gleichermaßen gefürchtet wurde. Dabei wurden die meisten von uns in drei, der eine oder andere in vier oder sogar in fünf Fächern geprüft.
Der Lehrgang A kam am 12./13. September glimpflich davon. Von 21 Schülern und Schülerinnen hat nur ein Prüfling nicht bestanden. Vom Lehrgang B, der, wie erwähnt, am Morgen des 14. September vor der Prüfung nur noch 13 Schüler zählte, ließen sich drei vom Oberschulrat, der auf die Schwierigkeit der Prüfung hinwies, einschüchtern und traten freiwillig zurück, um ihr Glück ein halbes Jahr später zu versuchen. Von den verbliebenen zehn Schülern der B haben dann acht die Prüfung bestanden. Es war die erste Reifeprüfung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges am »Städtischen Gymnasium zu Warburg«. Am 17. September haben wir uns in einer kleinen Abiturfeier in der Gastwirtschaft »Auf der Alm« von unseren Lehrern, die uns Kriegsteilnehmer im Abitur wirklich verständnisvoll und nachsichtig begleitet hatten, verabschiedet. Danach wollten wir möglichst schnell ein Hochschulstudium beginnen. Doch wegen der sehr ungünstigen Nachkriegsverhältnisse in Deutschland mussten die meisten von uns noch mehrere Semester auf einen Studienplatz warten. Von den Abiturienten des Lehrgangs B leben Fritz Kessemeier und Werner Tismer heute noch in Warburg. Edmund Daniel, der ebenfalls dazu gehörte und nach dem Studium jahrzehntelang mit seiner Familie auch in Warburg gewohnt hat, ist vor einigen Jahren verstorben.

Artikel vom 14.09.2006