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Happy-End auf der Müllkippe

Kammerspiele eröffnen die Saison mit Brechts »Kaukasischem Kreidekreis«

Von Manfred Stienecke
Paderborn (WV). Die Westfälischen Kammerspiele sind aus der Sommerpause zurück - und wie! Nahezu das komplette Ensemble steht zum Auftakt der Spielzeit in dem Brechtstück »Der kaukasische Kreidekreis« auf der Bühne.

Die ist bereits erleuchtet, wenn die Zuschauer nach dem Klingelzeichen ihre Plätze aufsuchen. Auf der Spielfläche hocken die ärmlich gekleideten Akteure in einem wilden Chaos aus Kleidungsstücken und Schuhen, leeren Flaschen und weggeworfenen Gerätschaften. Manche schlurfen mit Plastiktüten in der Hand durch den Krempel auf der Suche nach Brauchbarem. Schnell wird klar: Man befindet sich auf einer Müllkippe. Inmitten der träge ihr Dasein fristenden Leute sitzt ein alter Geschichtenerzähler, der mit eintöniger Stimme die Fabel vom »Kaukasischen Kreidekreis« vorliest. Und fast unmerklich beginnt das eigentliche Stück. Die zerlumpten Gestalten schlüpfen in die verschiedenen Rollen und beginnen ihr Spiel - scheinbar improvisiert.
Die Idee zu dieser reizvollen Rahmenhandlung hatte Regisseurin Barbara Neureiter, die in zwei Stunden ohne Pause ein durchweg unterhaltsames Brecht-Theater einrichtet, in dem der bisweilen spröde Lehrstück-Charakter auch mal kräftig überspielt und komödiantisch pointiert werden darf. Das Müllkippen-Ambiente ermöglicht mit wenigen Requisiten eine hinreichende Skizzierung der unterschiedlichen Spielorte - mal Palast des Gouverneurs, mal Bauernkate, mal Gerichtssaal.
Dorit Lievenbrück kann sich bei der Ausstattung ganz auf den Flohmarkt-Charakter beschränken und greift nur einmal zu unnötigem Schnickschnack, wenn sie ein Elektrogebläse als Windmaschine einsetzt. Der Effekt wirbelnden Papiers als Andeutung einer frischen Gesellschaftsbrise ist schnell verpufft, das störende Betriebsgeräusch aber erschwert die Textverständlichkeit.
Erzählt wird die Geschichte der Magd Grusche, die den ausgesetzten Säugling der vor einem Aufstand fliehenden Gouverneursfrau findet und den kleinen Michel als eigenes Kind aufzieht. Kerstin Westphal füllt die Rolle der naiven, aber willensstarken jungen Frau mit viel Herz und Leidenschaft aus und lässt sie zum sympathischen Mittelpunkt werden. Sie nimmt duldsam Entbehrungen und Demütigungen auf sich, um sich und »ihr« Kind durchzubringen.
Das im Vorderen Orient angesiedelte Märchen, das als Appell an die Mitmenschlichkeit, an Zivilcourage und Selbstbehauptung gemeint ist, hat natürlich ein Happy-End, das freilich einer Figur zu verdanken ist, die in ihrer schillernden Ausstrahlung zumindest fragwürdig ist: Der als Dorfrichter eingesetzte Tunichtgut Azdak (Thomas Heller) biegt und beugt das Recht, wie es ihm gefällt. Skrupellos und korrupt nutzt er das Amt zur persönlichen Bereicherung, wobei ihm das Gesetzbuch höchstens als Sitzunterlage dient.
Dennoch spricht er im Fall des von Grusche aufgezogenen Kindes ein weises Urteil nach der Verwandtschafts-Probe: Die Frau, die ihr Kind nicht aus dem Kreidekreis zu sich herüber zerrt, muss die wahre, wenn auch nicht unbedingt die leibliche Mutter sein. Das Vermögen der Gouverneursfrau wird von ihm außerdem sozialisiert und für den Bau eines Kindergartens bestimmt, der - so ganz uneingennützig denkt er nicht -Êden Namen seines Wohltäters, »Azdak-Garten«, tragen soll.
Im zwölfköpfigen Schauspiel-Ensemble, das in mehreren Dutzend Rollen agieren muss, haben nur wenige Darsteller wirklich die Chance zur figürlichen Charakterzeichnung. Am dankbarsten ist hier natürlich die Rolle der Magd Grusche, die von Kerstin Westphal einfühlsam gespielt wird.
Thomas Heller darf seinen Part des Dorfschreibers Azdak mit grober Selbstgefälligkeit und einer deftigen Portion Hemdsärmeligkeit ausstatten, während Frerk Brockmeyer etwas brav den mit Grusche verlobten Soldaten und zunächst gehörnten Kriegsheimkehrer Simon gibt. Zu den auffälligsten Akteuren gehören weiterhin Willi Hagemeier (unter anderem in der Rolle des ländlichen Haustyrannen Jussup) und Christian Onciu, der immer wieder mit seiner Spielfreude sowie feinen mimischen und gestischen Details auf sich aufmerksam macht.
Zum Gelingen der Aufführung tragen nicht zuletzt die drei Musiker bei. Gerhard Gemke (E-Piano), Elmar Büsse (Trompete) und Dieter Nowak (Schlagzeug) sorgen mit folkloristischen Melodien für eine klangstarke Illustrierung des Bühnengeschehens und liefern den Darstellern das musikalische Gerüst für die rustikal geschmetterten Songs. Das Publikum zeigte sich nach der glücklichen Schlusssequenz anhaltend beifallfreudig - mit Extra-Applaus für den kleinen Jonathan Schmalhorst als Michel.

Artikel vom 09.09.2006