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Tabus werden offen gelegt

Landesverband Lippe bringt neuen Band der »Lippischen Studien« heraus

Schlangen/Kreis Lippe (SZ). Tabus existieren überall und zu jeder Zeit - auch in Lippe. Sexualität und Körperlichkeit, Gewalt und Tod, sind noch immer die größten Tabus unserer Gesellschaft. Die Ethnologin Sabine Klocke-Daffa hat sich zusammen mit etwa einem Dutzend renommierter Wissenschaftler auf die Suche nach dem Verdrängten und Verschwiegenen in der lippischen Regionalgeschichte gemacht.
Die Schlängerin Annette Fischer hat an dem Buch mitgewirkt.Foto: SZ

Die Ergebnisse werden auf knapp 500 Seiten im neuesten Band der »Lippischen Studien« des Landesverbandes Lippe vorgestellt. Wer den Begriff »Tabu« hört, dem fällt sofort eine ganze Palette von tabuisierten Dingen ein: Tabu ist das, worüber man nicht spricht, und was man nicht tut. Tabus markieren das Verdrängte, Gebannte und Verborgene, was unbedingt gemieden werden soll, ohne dass es in jedem Falle verboten ist. »Keine Gesellschaft kommt ohne diese ungeschriebenen Gesetze aus, und manchmal sorgen rigorose Sanktionen für Einhaltung«, sagt Klocke-Daffa. Wo es trotzdem zum Verstoß komme, würden Fakten oftmals verdrängt, weil die Offenlegung eines Tabubruchs schwerer wiege als jede Strafe. Die »Lösung« anstehender Probleme könne über lange Zeit hinweg im stillen Erleiden seitens der Opfer und im Schweigen von Tätern und Mitwissern bestehen.
Die 13 Autoren dieses Buches, darunter die in Schlangen lebende Sozialwissenschaftlerin und Fotografin Annette Fischer, thematisieren einige der »großen« Tabus der lippischen Sozialgeschichte: Sexualität und Körperlichkeit, Gewalt und Tod. Der zeitliche Rahmen reicht dabei von der Frühen Neuzeit bis heute.
Zur Sprache kommen eine Vielzahl von Themen: uneheliche Kinder und voreheliche Schwangerschaften, Sexualität und Körperkonzepte, Umgang mit psychisch kranken Menschen, die Behandlung von ethnischen und religiösen Minderheiten während der NS-Zeit, das verschwiegene Augustdorfer »Polenlager« in der Nachkriegszeit und Lippes Erinnern an den Holocaust.
An einem Skandal durch offenen Tabubruch ist den Autoren nach eigenen Angaben nicht gelegen. Vielmehr soll ein bisher weitgehend vernachlässigtes Thema der lippischen Regionalgeschichte aufgegriffen werden. »Eine Gesellschaft ohne Tabus wäre auch eine Illusion und sogar gefährlich, denn Tabus können Ordnung aufrecht erhalten, sie sind sozusagen der Kitt, der verhindert, dass Dinge auseinanderfallen«, sagt Klocke-Daffna. Zu viel Kitt lasse allerdings keine Luft zum Atmen.
Damit eine Gesellschaft nicht an ihren Tabus ersticke, müsse sie gelegentlich aufgehoben werden. Das sei meist erst möglich, wenn sich die Ordnung geändert hat oder wenn eine neue Generation herangewachsen ist, die das Verschwiegene hervorholt. Dann habe auch die Wissenschaft eine Chance, dem Verborgenen nachzuspüren, damit verdrängte Probleme sichtbar werden und erlittene Wirklichkeit nicht länger unsagbar bleibt, meint die Wissenschaftlerin.
Gewidmet ist der Band der lippischen Studien der kürzlich verstorbenen Historikerin Ingrid Ahrendt-Schulte. Es umfasst 480 Seiten mit etwa 60 Abbildungen und ist im örtlichen Buchhandel erhältlich.

Artikel vom 08.09.2006