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Ziel ist die Hilfe zur Selbsthilfe

Rechte behinderter Menschen und die gesetzlichen Voraussetzungen

Von Sabine Hippel
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist jeder zwölfte Deutsche schwerbehindert. 6,7 Mio. Schwerbehinderte lebten zum Jahresende 2005 in Deutschland; das waren 1,3 Prozent mehr als zwei Jahre zuvor. Gut die Hälfte von ihnen waren Männer. Weltweit wird die Zahl der behinderten Menschen mit rund 650 Mio. angegeben. Behinderungen sind keine Frage des Alters; sie können vielfältige Ursachen haben.

Wer körperlich, geistig oder seelisch behindert ist oder wem eine solche Behinderung droht, hat einen Anspruch auf Hilfe. Dieses sieht das Sozialgesetzbuch (kurz: SGB) IX (früher Schwerbehindertengesetz) vor. Es geht um Hilfe, die notwendig ist, um die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern. Was für behinderte Menschen getan wird, ist keine milde Gabe, sondern die Hilfe der Gemeinschaft für diejenigen, die sich nicht selbst helfen können. Sie ist eine Hilfe zur Selbsthilfe.
Was Behinderung bedeutet:
Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist. Mit dieser Beschreibung bietet das SGB IX erstmals eine Definition des Begriffs Behinderung, der für den gesamten Bereich des Sozialrechts gilt. Sie orientiert sich an der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Den Schwerpunkt bildet die Aussage, dass eine Behinderung vorliegt, wenn die Teilhabe an den unterschiedlichen Lebensbereichen nicht möglich ist. Um diese Teilhabe zu ermöglichen, soll mit medizinischen, beruflichen und sozialen Leistungen schnell, wirkungsvoll, wirtschaftlich und dauerhaft gefördert und geholfen werden. Die Schwere der Behinderung wird in GdB (= Grad der Behinderung) ausgedrückt.
Feststellung des GdB: Für die Inanspruchnahme der Rechte aus dem SGB IX kommt es auf die Ursache der Behinderung nicht an. Entscheidend für die Feststellung eines GdB ist allein das Ausmaß der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen. Eine Behinderung muss immer auf einem regelwidrigen gesundheitlichen Zustand beruhen, so dass Funktionsbeeinträchtigungen, die sich im Alter entwickeln, und die nach ihrer Art und ihrem Umfang für das Alter typisch sind, nicht als Behinderung angesehen werden können. Pathologische Veränderungen sind allerdings immer Behinderungen, selbst wenn sie im Alter besonders häufig auftreten und als »Alterskrankheiten« bezeichnet werden, z.B. Alzheimersche Erkrankung, Arteriosklerose, Hirndurchblutungsstörungen. Auch Beeinträchtigungen des Hör- und Sehvermögens sind in der Regel pathologisch.
Bedeutung des GdB und der Merkzeichen u.a.: Die entscheidenden Konsequenzen für viele Rechtsbereiche ergeben sich aus der Eigenschaft als Schwerbehinderter, also mit einem GdB von 50. Die wesentlichen Folgen sind: Rechte der schwerbehinderten Menschen im Arbeitsleben: Schwerbehinderte haben z.B. Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr. Sie werden auf ihr Verlangen von Mehrarbeit freigestellt. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Dieser besondere Kündigungsschutz besteht - anders als der Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz - unabhängig von der Betriebsgröße. Die Kündigungsfrist für die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen beträgt mindestens vier Wochen. Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden z.B. ergänzt durch Krankengeld, Versorgungskrankengeld, Verletztengeld, Übergangsgeld, Ausbildungsgeld oder Unterhaltsbeihilfe.
Finanzielle Hilfen und Pflichten für Arbeitgeber: Arbeitgeber können z.B. Zuschüsse oder Darlehn erhalten, wenn sie Arbeits- und Ausbildungsplätze für Schwerbehinderte bereitstellen, sie Arbeits- und Ausbildungsplätze behindertengerecht umgestalten, Schwerbehinderte am Arbeitsplatz besonders betreut werden oder durch Beschäftigung Schwerbehinderter außergewöhnliche Belastungen entstehen.
Gleichstellung: Behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, sollen schwerbehinderten Menschen unter bestimmten Umständen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder behalten können. Die Gleichstellung erfolgt auf Antrag des behinderten Menschen bei der Arbeitsagentur durch dortige Feststellung. Die Gleichstellung hat grundsätzlich den vollen Behindertenschutz zur Folge mit Ausnahme des Rechts auf Zusatzurlaub und auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr.
Rentenversicherungsrecht: Es besteht grundsätzlich Anspruch auf (vorgezogene)Altersrente für Schwerbehinderte mit einem GdB von 50, nicht für Gleichgestellten.
Steuern und Versicherungen: Behinderten Menschen werden Pauschbeträge bei der Lohn- bzw. Einkommensteuer gewährt und Vergünstigungen bei der Kraftfahrzeugsteuer. Schwerbehinderte Menschen, bei denen im Ausweis die Merkzeichen (zur Bedeutung siehe unten) H, BL, GL und aG vermerkt sind, sind von der Kraftfahrzeugsteuer befreit. Mit einer Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer korrespondieren auch Beitragsnachlässe bei der Kraftfahrzeugversicherung (Haftpflicht und Kasko).
Krankenversicherungsrecht: Unter bestimmten Voraussetzungen besteht ein Beitrittsrecht zur gesetzlichen Krankenversicherung, das in der Regel durch Satzung der Krankenkasse von einer Altersgrenze abhängig gemacht wird. Weitere Teilhaberrechte für Schwerbehinderte: An die Anerkennung der Schwerbehinderung - GdB 50 - knüpfen nicht nur das SGB IX, sondern auch andere Gesetze und Verordnungen an. So kann sich die gesetzliche Unfallrente um 10 Prozent erhöhen.
Nachteilsausgleiche: Merkzeichen: Die zusätzliche Anerkennung von Merkzeichen hat u.a. folgende Vergünstigungen bzw. Erleichterungen für die Betroffenen zur Folge: G: Begünstigt sind schwerbehinderte Menschen mit dem Merkzeichen »G«, wenn sie in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind. Das Merkzeichen G berechtigt entweder bei der Kraftfahrzeugsteuer zu einer Ermäßigung von 50 Prozent des Steuersatzes oder zum Recht auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr.
aG: Das Merkzeichen »aG« bedeutet eine außergewöhnliche Gehbehinderung und liegt vor, wenn der behinderte Mensch sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Das Merkzeichen hat insbesondere Bedeutung für Parkerleichterungen und Steuerermäßigungen.
H: Das Merkzeichen »H« steht für hilflos, d.h. wenn der schwerbehinderte Mensch in erheblichem Umfang dauernd fremder Hilfe bedarf. Vorteile sind u.a. die unentgeltliche Beförderung im Personennahverkehr (auch für Begleitperson bei Merkzeichen B), die Steuerbefreiung für das Kraftfahrzeug und weitere Steuervorteile.
BL: Das Merkzeichen »Bl« steht blinden Menschen oder Menschen mit schwerer Beeinträchtigung ihres Sehvermögens zu. Vorteile sind u.a. Blindengeld, Steuerbefreiungen bzw. - ermäßigungen, die unentgeltliche Beförderung im Personennahverkehr (auch für Begleitperson bei Merkzeichen B) und die Befreiung von der Rundfunkgebühr.
Gl: bedeutet gehörlos. Es ermöglicht einen Ausgleich in Form der unentgeltlichen Beförderung im Personennahverkehr (auch für Begleitpersonen bei Merkzeichen B), oder die Steuerermäßigung für das Kraftfahrzeug. Es besteht z.B. auch ein Anspruch auf einen Dolmetscher der Gebärdensprache zur Verständigung mit den Sachbearbeitern der Behörden.
RF: Das Merkmal »RF« setzt voraus, dass ein GdB von 80 festgestellt wurde und der Antragsteller ständig nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann. Vorteile sind die Befreiung von der Rundfunk- und Fernsehgebührenpflicht sowie der Telefongebührenermäßigung bei den Anschlussgebühren.
B: Begünstigt sind schwerbehinderte Menschen mit dem Merkzeichen »B«, wenn sie ständiger Begleitung bedürfen. Einige Merkzeichen liegen vor aufgrund einer Kombination von Behinderungen mit bestimmten GdB: z.B. RF bekommen Schwerbehinderte mit GdB 60 wegen Sehbehinderung, da keine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen möglich ist; G liegt in der Regel vor bei einem GdB von 50 aufgrund der Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen und/oder Lendenwirbelsäule; ausnahmsweise schon bei GdB 40, wenn die Gehfähigkeit besonders eingeschränkt ist.
Besonderheiten des Verfahrens: Der Grad der Behinderung (GdB) kann nur auf Antrag festgestellt werden. Richtige Antragsbehörde ist grundsätzlich das Versorgungsamt. Das örtlich zuständigen Versorgungsamt stellt durch Bescheid fest, ob eine Behinderung vorliegt und bestimmt ggf. den Grad der Behinderung, der nach 10er-Graden abgestuft wird. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt. Nach Antragstellung wird von einem Mediziner des Versorgungsamtes anhand ärztlicher Befunde für die einzelnen Beschwerden und Krankheitsbilder jeweils ein Einzel-GdB bestimmt. Grundlage hierfür bilden die »Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit« (AHP). Die festgestellten Einzel-GdB werden dann nicht zusammengerechnet. Es wird der höchste Grad herangezogen und je nach Schwere der weiteren Beschwerden erhöht.
Tätigkeit gegenüber dem Versorgungsamt: Die zügige Bearbeitung durch das Versorgungsamt sollte verlangt werden. Eventuell ist eine Untätigkeitsklage in Betracht zu ziehen. Das Gesetz sieht für die Entscheidung über den Antrag eine Frist von sechs Monaten vor und für die Entscheidung über den Widerspruch eine Frist von drei Monaten.
Abänderung von Bescheiden: Wenn sich der Gesundheitszustand verschlechtert, kann jederzeit ein Änderungsantrag beim Versorgungsamt gestellt werden. Häufig sind Änderungen zu Lasten der Betroffenen, wenn eine so genannte Heilungsbewährung angenommen wird. Diese wird bei mehreren Behinderungen in den AHP ausdrücklich vorgesehen (z.B. Herztransplantation). Auch wenn die Aufhebung nur für die Zukunft wirken soll, ist der Vertrauensschutz zu beachten. Daher ist in der Praxis häufig eine derartige Rücknahme nicht möglich. Beispiel: Für Schwerhörigkeit wurde ein GdB von 40 zuerkannt; jetzt stellt sich heraus, dass der Betroffene gut hören kann.

Artikel vom 09.09.2006