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Als in Schulen der Rohrstock regierte

Erzählcafé: Lore Hülsmann (65) ist als »historische Lehrerin« beschäftigt

Brackwede (ptr). Die Zeiten, in denen Lehrer mit Rohrstock, Spucknapf und Kniebänkchen im Klassenraum herrschten, gehören zum Glück längst der Vergangenheit an. Lore Hülsmann kann den Schulalltag vor 100 Jahren für Kinder von heute jedoch lebendig werden lassen - als historische Lehrerin des Senner Museums Osthusschule.

Im Erzählcafé berichtete die 65-Jährige, die im Berufsleben unter anderem als Lehrerin an der Hauptschule und der Bahnhofsschule in Senne arbeitete, von ihrer Tätigkeit. Meist besichtigen Kinder der dritten oder vierten Klasse das Schulmuseum. »Die sind vorher immer ganz aufgeregt und fragen, ob sie auch Schläge kriegen können«, sagt Hülsmann und lacht. Das alte Klassenzimmer ist stilecht eingerichtet: Enge Holzbänke mit Vorrichtung für ein Tintenfässchen, alte Schränke an den Wänden, in denen ausgestopfte Tiere stehen, und viele alte Utensilien - von der Schultasche bis zur Schiefertafel mit Griffel.
»Nachdem ich die Schulglocke geläutet habe, werden die Schulregeln vorgelesen.« Die haben es nach heutigem Empfinden in sich: Jedes Kind hat die Hände brav gefaltet auf den Tisch zu legen, die Füße stehen parallel auf dem Boden. Dem Lehrer ist jederzeit fest ins Auge zu schauen - sprechen, gaffen oder plaudern ist dagegen streng verboten. Wer nicht richtig spurt, riskiert einen Eintrag im Züchtigungsbuch, mit der entsprechenden Strafe: So kassierte manch ein Schüler zwei Stockschläge auf das Gesäß für »leises Brummen«, »ungehorsames Betragen« oder weil er »wiederholt faul und unaufmerksam« war.
»Andere Strafen waren eher psychischer Natur«, erzählt Hülsmann weiter. Das Knien auf einem harten Kantholz vor dem Katheder des Lehrers gehörte dazu. Wer unartig war, konnte aber auch zur Reinigung des mit Kautabak verdreckten Spucknapfes verdonnert werden. In Zeiten ohne fließend Wasser sicher kein Vergnügen.
Die besondere Aufmerksamkeit der Kinder gilt heute vor allem einem alten Skelett, das im Klassenzimmer steht. »Ich erzähle dann immer gerne die Geschichte, dass die Kinder den Lehrer früher so geärgert haben, dass er der Schule sein eigenes Gerippe überlassen hat, damit den Schülern immer ein Teil ihres alten Lehrers vor Augen bleibt«, sagt Hülsmann.
Natürlich entspricht dieses Schauermärchen nicht der Wahrheit. Manch eine geläufige Redewendung von heute lässt sich aber aus dem Schulalltag »anno dazumal« ableiten. So hatten schon damals die Jungen oft »eine große Klappe«, womit jedoch nicht nur das vorlaute Mundwerk, sondern auch der Verschluss der Schultasche gemeint war, der im Vergleich zur Tasche der Mädchen deutlich größer war. Die Bezeichnung »sitzenbleiben« lässt sich dagegen mit der Struktur alter Schulzimmer erklären. Da verschiedene Klassen auf einmal unterrichtet wurden, saßen die Erstklässler vorne, die höheren Klassen hinten. Wer das Lernziel eines Schuljahres nicht erreichte, blieb entsprechend in seiner Bank sitzen. Von I-Männchen spricht man dagegen noch heute, weil der Buchstabe »i« der erste war, den die Schüler beigebracht bekamen.
»Anstelle von strengem Gehorsam versuchen Lehrer heute, den Kindern das Rüstzeug zum Selberlernen an die Hand zu geben«, sagt Hülsmann. Ihre These, dass selbst erlerntes Wissen länger haften bleibe als eingepauktes, blieb vom Publikum jedoch nicht unwidersprochen. An die vielfach auswendig gelernte Schiller-Ballade »Lied von der Glocke« konnte sich noch so mancher erinnern - ebenso an die Sütterlin-Schrift. Kostproben altdeutscher Schreibkunst konnten auf echten Schiefertafeln mit Griffel abgegeben werden.

Artikel vom 07.09.2006