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Europa lebt stark von der Basis:
EU ist viel zu oft der Sündenbock

CDU-Diskussionsabend mit Minister Breuer und Kommissionschef Dr. Sabathil

Von Frederik Becker
Brakel (WB). Ist das Vertrauen in die Europäische Union wirklich so gering, wie es die gescheiterten Volksabstimmungen um die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden vermuten lassen? Dieser These widersprachen die ausgewiesenen EU-Experten, die der CDU-Kreisverband Höxter zu einer offenen Diskussionsrunde nach Brakel eingeladen hatte. Erfreulich viele Jugendliche diskutierten im Hotel Löseke mit.

Die Referenten: Aus Berlin reiste Dr. Gerhard Sabathil an, der die deutsche Vertretung der Europäischen Kommission leitet und bereits seit 22 Jahren im Dienst für die Kommission ist. Er kam stellvertretend für Elmar Brok, der sich aufgrund einer Sitzung in Brüssel entschuldigen ließ. Aus der Landeshauptstadt Düsseldorf nahm Michael Breuer, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten im Rüttgers-Kabinett, am Podium Platz. Christophe Darley, Europabeauftragter der CDU Höxter, zeigte sich erfreut über diese hochkarätige und versierte Runde, die von Hubertus Fehring (CDU-MdL) und Klaus Funnemann (Kreisgeschäftsführer) sowie Gudrun Borchers (stv. Kreisvorsitzende) ergänzt wurde.
»Etwa sechzig Prozent der auf EU-Ebene beschlossenen Gesetze wirken sich unmittelbar auf Länder und Kommunen aus. Wir brauchen ein Mitspracherecht, das wir etwa durch unsere Landesvertretung in Brüssel wahrnehmen«, wie Minister Michael Breuer beschrieb. Die Außenposten seien Sprachrohr der Landesregierung und der Bezirke: »Wir müssen kritisch beobachten, was in Brüssel passiert.« Nordrhein-Westfalen sei mit 18 Millionen Einwohnern so groß wie nur sechs andere Länder der EU und müsse so einen »Klingelknopf« ständig zur Verfügung haben, um bei schädlichen Gesetzen eingreifen zu können.
Nur so könne die Subsidiarität, also die Entscheidungsgewalt auf der jeweils niedrigsten Ebene, als Strukturprinzip der EU bewahrt werden. Europa lebe schon definitionsgemäß von der Basis. Es müssten auch kritische Fragen erlaubt sein: »Warum tagt der EU-Ministerrat nicht öffentlich, obwohl es jeder Stadtrat, jedes Länderparlament und der Bundestag fast ausnahmslos tun?«
Der höchste Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland, Dr. Gerhard Sabathil, betonte, dass die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden nicht als »große Krise Europas« zu interpretieren sei, sondern vielmehr ein Ventil der Bevölkerung für soziale Verwerfungen in der nationalen Politik (Paris: Vorort-Proteste 2005) und die Institutionen der EU darstelle.
»18 der 27 Staaten der EU, zu der ab 2007 auch Bulgarien und Rumänien gehören werden, haben die Verfassung bereits ratifiziert«, wie Sabathil der gängigen Meinung vehement widersprach. Man dürfe nicht den gleichen Fehler wie 1984 machen, als schon einmal eine EU-Verfassung verworfen wurde. Wenn bis zur nächsten Europawahl 2009 keine Einigung erzielt werde, würde auch dieser Entwurf »auf dem Müllhaufen der Geschichte« landen, wie Sabathil die Situation schilderte.
Dr. Sabathil wollte auch das gängige Vorurteil beendet wissen, dass die EU-Osterweiterung Arbeitsplätze in Deutschland koste. Der Export in diese Länder sei in den vergangenen beiden Jahren um die Hälfte gestiegen. Auch die Zusammenarbeit etwa bei der Terrorabwehr und die offenen Grenzen, günstigen Flugverbindungen und die große Produktvielfalt sei der EU zu verdanken. Dr. Sabathil betonte ebenfalls die Wichtigkeit der Europawahlen: »Wir haben den Krieg der Völker durch den friedlichen Dialog der Länder ersetzt.« Jeder solle Gebrauch von seinem Wahlrecht machen, eine Wahlbeteiligung von 43 Prozent wie 2004 sei ernüchternd.
Interesse für Europa - das sei trotzdem nicht selbstverständlich, die EU oft genug nur der Sündenbock für strikte Gesetze, Bürokratiewahnsinn und bürgerferne Politik. Die Town-Twinning-Konferenz in Steinheim sei da nur ein gutes Beispiel für Städtepartnerschaften, für »gelebte Demokratie« innerhalb der EU, in der jeder Staat etwas von dem anderen lernen könne, so Sabathil in Brakel.

Artikel vom 06.09.2006