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»Die Welt ist nicht sicherer geworden«

250 Teilnehmer beim Antikriegstag - Werner Höner: »Mahnung von Stukenbrock«

Schloß Holte-Stukenbrock (ib). »Sie waren meine Freunde«. Jean Jülich steht da mit seiner Gitarre in den Händen. Hinter ihm die niedergelegten Kränze. Als Edelweißpirat gehört er zu jenen, die aktiv Widerstand leisteten. »Am zehnten November 1944 wurden sechs von uns in Köln ermordet«, fährt er fort. Die Menschen, die ihm jetzt gegenüber sitzen und stehen, schweigen. »Sie waren meine Freunde«, sagt er nochmals. Dann singt er ein Lied, das sie gemeinsam gesungen haben an den Orten, an denen sie sich vor den Nationalsozialisten versteckt hielten.

Rund 250 Gäste haben sich am Samstagnachmittag auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof in Stukenbrock-Senne versammelt, darunter Botschafter der Länder Russland, Serbien und Weißrussland: Der Antikriegstag 2006 steht für das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Initiative des Arbeitskreises »Blumen für Stukenbrock« will gleichsam mahnen: »Aus dem Erinnern müssen Brücken der Verständigung, der Freundschaft und des Friedens gebaut werden«.
Tobias Pflüger, Mitglied des Europäischen Parlaments, zeigt sich beeindruckt, dass so viele Menschen nach Stukenbrock-Senne gekommen sind, um sich zu erinnern. »Das steht dem Vorurteil entgegen, dass Geschichte nichts mehr bedeute, insbesondere jungen Leuten«, so Pflüger. »Das gibt mir Hoffnung«.
Auf die hervorragende Arbeit, die der Arbeitskreis beim Erinnern leiste, machte nicht nur die stellvertretende Landrätin des Kreises Gütersloh, Ulrike Boden, sondern auch Professor Dr. Wladimir Naumow als Zeitzeuge der Befreiung des Lagers 326/VI-K in Stukenbrock aufmerksam. Er überreichte dem Vorsitzenden Werner Höner aus diesem Anlass ein Diplom, das den Titel »Frieden für immer« trägt. »Er leistet einen bedeutenden, persönlichen Beitrag zur Versöhnung der Völker«, ließ Naumow übersetzen. Beide Männer zeigten ihre Freude mit einer herzlichen Umarmung. Höner hatte zuvor bekannt gegeben, dass der Obelisk auf dem Sowjetischen Soldatenfriedhof beim Antikriegstag 2007 - dem 40-jährigen Bestehen des Arbeitskreises »Blumen für Stukenbrock« - in seiner ursprünglichen Form, mit Fahne, wiederhergestellt sein werde.
Der Antikriegstag in Stukenbrock-Senne gilt nicht allein der Erinnerung. Werner Höner spricht von der »Mahnung von Stukenbrock« und davon, dass diese auffordere, nach anderen Lösungen zu suchen - an Stelle von Kriegen. »Vor 20 Jahren war ich das letzte Mal hier - als Botschafter der UdSSR«, beginnt Juli Kwizinski. Es habe sich viel verändert sagt er, der jetzt Abgeordneter der Duma ist. Das »goldene Zeitalter«, welches das Ende des Kalten Krieges zunächst versprochen habe, sei nicht angebrochen. »Der Balkan ist auf dem Weg, zum Pulverfass Europas zu werden, im Nahen Osten herrscht Krieg, im Irak sterben jeden Tag hunderte Menschen, Afghanistan hat sich als ein politisches Abenteuer erwiesen«, zählt er Kriegsgebiete auf und resümiert: »Die Welt ist nicht sicherer, sondern gefährlicher geworden«.
Als der, der die Gegenposition in Kriegsfragen vertritt, stellt sich Tobias Pflüger vor: »Eine Konsequenz des zweiten Weltkrieges muss sein, dass von Deutschland aus keine Angriffskriege geführt werden«. Gegen eine Ausweitung deutscher Militärpräsenz äußerte sich auch der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes NRW, Gundram Schneider. »Die Interessen Deutschlands sollten in den Kindergärten, Schulen, Universitäten liegen«.
Ein weiteres Anliegen, insbesondere der Vertreter des Antifa-Jugendcamps, das am Wochenende in Stukenbrock-Senne kampierte: Widerstand gegen die Aufmärsche von Neonazis. »Es gibt diese Aufmärsche noch - aber es gibt auch uns«, sagt ein Sprecher und verweist auf das, was einst Jean Jülich und seine Freunde taten - Widerstand im Sinne der Edelweißpiraten.

Artikel vom 04.09.2006