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Das Wort zum Sonntag

Von Diakonin Jutta Witte-Vormittag


Liebe Leserin und lieber Leser!
Vor kurzem fand ich eine Karikatur in einer Zeitschrift: In einer halb fertig gebauten Wohnung steht ein Makler vor einem Paar und sagt: »Die Wohnung hat 200 Quadratmeter und geht über drei Etagen. Da müssen Sie sich nicht jeden Tag unbedingt begegnen.« Tröstliche Worte für die beiden, die gemeinsam in eine Wohnung ziehen wollen?
Vielleicht, denn Nähe birgt immer auch ein Risiko. Nähe kann sogar Angst machen. Denn plötzlich sieht mich der oder die andere, wie ich bin, wenn keine Gruppe dabei ist. Menschen, die mir nahe sind, bemerken meine Stimmungen schneller, erkennen klarer, dass ich gar keine Lust habe, immer nett und freundlich zu sein. Mein Innerstes gehört nicht mehr nur mir allein.
Und dann stellt sich schon die Frage: Bin ich in der Lage, einen anderen Menschen so nahe an mich herankommen zu lassen? Kann ich aushalten, dass er so viel von mir weiß? Bin ich sicher, dass er sein Wissen nicht ausspielt?
Ja, Nähe birgt immer auch ein Risiko. Nähe kann sogar Angst machen.
Doch dieses Risiko kann durch Vertrauen überwunden werden. Wenn ich davon überzeugt bin, dass der/die andere mir nichts Böses will, kann Nähe etwas Schönes und Befreiendes sein. Ich kann mich bei einem anderen Menschen geborgen und aufgehoben fühlen. In einem solchen Schutzraum zu leben, macht das Leben lebenswert. Bei allen Schwierigkeiten und Widrigkeiten des Alltags zu wissen, dass da jemand ist, der mir Geborgenheit und Schutz bietet, kann über vieles hinweg helfen.
Der Apostel Paulus sagt uns in der Apostelgeschichte: Gerade diese Nähe bietet euch Gott an. Gott, der unsichtbar und unbegreiflich ist und doch dem Menschen ganz nah sein will. Jeden hat er geschaffen. Er will jeden von uns - und keinem ist er fern. Ganz nahe ist er, der Gott, zu dem man beten kann. Der Gott, dem ich mein Herz ausschütten kann. Der Gott, vor dem ich sein kann, wie ich bin.
Jemand, der das am eigenen Leib erfahren hat, drückt das so aus: »Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir!« (Psalm 139, 5) Solche Nähe macht keine Angst. Stattdessen vermindert sie das Risiko, sich darauf einzulassen. Ein Wagnis wird es immer bleiben, aber eines, mit dem Menschen schon seit ca. 2000 Jahren Erfahrungen gemacht haben, die dem Leben gut tun.
»Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt. Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand, sind Menschen ausgezogen in das gelobte Land.« (EG 395, 1)
Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende, viele Begegnungen auf dem »Verler Leben« und viel Nähe mit Menschen und grüße mit einem irischen Segensspruch:
»Möge Gott Vater deine Schritte führen,
möge Gott Sohn deine Arme lenken,
möge Gott Heiliger Geist deinen Verstand leiten,
um möglichst viel Gutes zu tun.
Dein Lächeln sei, für den der friert, ein Mantel aus Lammfell.
Mögest du jeden Tag spüren,
dass auch die dunkelste Stunde einen göttlichen Schimmer besitzt.«
Ihre Jutta Witte-Vormittag

Artikel vom 02.09.2006