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Gehetzt
wie ein Tier

Theater zu Canossa

Von Rainer Maler
Paderborn (WV). Dass Wahnsinn und Genie nahe beieinander liegen, textete einst der Rocksänger Udo Lindenberg, und am Ausgrabungsgelände der Kaiserpfalz gab das italienische Theaterensemble »MacbeTHeatre« mit dem Stück »Enrico IV« des italienischen Schriftstellers Luigi Pirandello eine beredte Kostprobe.

Bei einer historischen Maskerade fällt ein Adliger vom Pferd und verliert die Erinnerung. Die nächsten zwölf Jahre hält er sich scheinbar für den mittelalterlichen Heinrich IV, den Bußgänger von Canossa. Seine Umgebung spielt das Spiel mit, gaukelt ihm vor, alle lebten im 12. Jahrhundert. Realitätsverlust auf beiden Seiten.
Vor dem ins Abendrot getauchten Dom als malerischer Kulisse entfalteten die Schauspieler in historischen Kostümen ein munteres Spiel um Identität und falschen Schein in italienischer Sprache. Trotzdem war die Handlung gut zu verfolgen und zahlreiche Zuschauer spendeten lang anhaltenden Applaus für die gelungene Inszenierung.
Der Nobelpreisträger Pirandello (1867-1936) kreiste in seinen The-aterstücken um das Problem Identität, Wahrheit und Lüge, um Sein und Schein und zeigte die Fragilität menschlicher Existenz auf. Persönlich betroffen durch die psychische Erkrankung seiner Ehefrau, beschrieb er in seinen Stücken die Gratwanderung seiner Figuren an der Grenze ihrer Identität, die ihm eine brüchige Konstruktion aus irritierenden Gefühlen und fragwürdigem Willen war.
Niccola Cavallari in der Rolle des Enrico schreit die ganze Last seiner Existenz aus sich heraus, ist ständig in Bewegung wie ein gehetztes Tier. Er spielt den »Pazzo«, den Wahnsinnigen, eigentlich längst wieder normal, aber was heißt schon normal. Als seine Lebenslüge »Wahnsinn« entlarvt wird, tötet er seinen Nebenbuhler Baron Beloredi, um weiter in seiner eigenen Welt existieren zu können. Zurück bleiben nur Schuldige, deren Scheinheiligkeit hinter den Masken sozialer Konventionen entlarvt ist.

Artikel vom 15.08.2006