22.08.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Ich hatte das Gefühl, dass wir beide dasselbe dachten, doch keiner von uns sagte etwas, bis wir die Leiche im Krankenzimmer hatten und allein waren. Aber jeder, der die Leiche gesehen hat, könnte die Blutergüsse bemerkt haben. Miss Oliver bestimmt. Sie hat darauf bestanden, den Leichnam ihres Vaters zu sehen, und hat von mir verlangt, dass ich das Tuch zurückschlage.«
»Aber keiner von Ihnen hat es irgendwem anders gegenüber erwähnt?«
Maycroft sagte: »Ich hielt es für wichtig, bis zur Ankunft der Polizei keine Spekulationen aufkommen zu lassen. Mir war natürlich klar, dass es eine Untersuchung geben würde. Ich bin sofort ins Büro gegangen und habe die Nummer angerufen, die man mir genannt hatte. Dort wurde mir gesagt, ich solle dafür sorgen, dass niemand die Insel betritt oder verlässt, und weitere Anweisungen abwarten. Zwanzig Minuten später erfuhr ich dann, dass Sie herkommen würden.«

E
r hielt kurz inne, dann sprach er weiter. »Ich kenne die Menschen auf dieser Insel. Ich weiß, ich bin erst achtzehn Monate hier, aber das ist lange genug, um mir ein Bild zu machen. Die Vorstellung, dass einer von ihnen Oliver ermordet haben könnte, ist grotesk. Es muss eine andere Erklärung geben, so unwahrscheinlich das auch sein mag.«
»Dann erzählen Sie mir, was Sie über die Leute wissen.«
»Mrs. Burbridge, unsere Hauswirtschafterin, ist die Witwe eines Geistlichen und arbeitet seit sechs Jahren hier, Lily Plunkett, die Köchin, seit zwölf. Soweit ich weiß, hatte keine der beiden einen besonderen Grund, Nathan Oliver nicht zu mögen. Adrian Boyde, mein Sekretär, ist ein ehemaliger Priester. Er war auf Urlaub und gerade erst zurückgekehrt, als ich auf die Insel kam. Ich glaube nicht, dass er fähig wäre, irgendein Lebewesen zu töten. Von Emily Holcombe haben Sie schon gehört. Als Letzte ihrer Familie hat sie laut Stiftungsvertrag das Recht, hier zu wohnen, und sie hat ihren Butler Arthur Roughtwood mitgebracht. Dann wäre da noch Jago Tamlyn, unser Bootsführer und Elektriker. Schon sein Großvater hat als Bootsführer hier auf Combe Island gearbeitet.«
Kate fragte: »Und Millie Tranter?«
»Millie ist die einzige junge Person unter unseren Mitarbeitern, und ich glaube, diese Sonderstellung gefällt ihr. Sie ist erst achtzehn und hilft Mrs. Plunkett in der Küche, serviert beim Essen und geht Mrs. Burbridge zur Hand.«
Dalgliesh sagte: »Ich muss Miss Oliver sprechen, falls sie sich gut genug fühlt, um mit uns zu reden. Ist im Augenblick jemand bei ihr?«
»Nur Dennis Tremlett, Olivers Lektor. Guy und ich haben ihr die Nachricht von Olivers Tod überbracht. Jo ist später hingegangen, um zu sehen, ob sie etwas für Miranda Oliver tun kann. Dennis Tremlett ist bei ihr geblieben, also ist Miranda nicht allein.«
»Ich möchte, dass Sie beide mich zum Leuchtturm begleiten. Vielleicht sollten Sie den in der Bibliothek Wartenden Bescheid sagen lassen, dass ich so bald wie möglich zu ihnen kommen werde. Sie könnten ihnen aber auch freigeben, damit sie weiter ihren Beschäftigungen nachgehen können, und sie dann wieder zusammenrufen, wenn ich soweit bin.«

M
aycroft nickte. »Ich denke, sie möchten lieber warten. Bevor wir uns auf den Weg machen, brauchen Sie sonst noch irgendwas?«
»Es wäre hilfreich, wenn wir den Safe benutzen könnten. Unter Umständen gibt es Beweisstücke, die sicher aufbewahrt werden müssen, bis sie ins Labor geschickt werden können. Leider heißt das, wir müssen die Kombination ändern. Macht das große Umstände?«
»Ganz und gar nicht. Der Stiftungsvertrag und andere wichtige Schriftstücke sind nicht auf der Insel. Informationen über unsere früheren Gäste sind natürlich vertraulich, aber diese Unterlagen werden in den Aktenschränken ebenso sicher sein wie im Safe. Der müsste groß genug sein für Ihre Bedürfnisse. Ich habe mich schon gefragt, ob ein so großer gewählt wurde, um eine Leiche darin zu verstecken.« Er lief rot an, als ihm plötzlich bewusst wurde, wie furchtbar unpassend diese Bemerkung gewesen war. Um die Peinlichkeit zu überspielen, sagte er: »Also dann, auf zum Leuchtturm.«

B
enton öffnete den Mund, um einen Kommentar abzugeben, schloss ihn aber gleich wieder. Wahrscheinlich hatte er irgendwas über Virginia Woolfs Fahrt zum Leuchtturm bemerken wollen und es sich dann verkniffen. Nach einem kurzen Blick in Kates Gesicht befand Dalgliesh, dass das auch gut so war.

5
Dalgliesh, seine beiden Mitarbeiter, Maycroft und Staveley verließen Combe House durch die Vordertür und nahmen den schmalen Pfad am Rand der Klippen entlang zum Leuchtturm. Dalgliesh erkannte, dass die niedrigere Klippe, auf der der Leuchtturm stand und die ihm von der Luft aus aufgefallen war, gut fünf Meter tiefer lag. Von oben sah das schmale Plateau so dicht bewachsen aus wie ein angelegter Garten. Die Wiesenstücke zwischen den Felsen waren leuchtend grün, die mächtigen Gesteinsbrocken mit ihren silbrigen Granitflächen sahen aus wie sorgfältig angeordnet, und aus den Felsspalten quollen üppig gelbe und weiße Blumen mit saftigen Blättern. Prosaischer war dagegen Dalglieshs Beobachtung, dass die untere Klippe jedem, der behände genug war hinunterzuklettern, einen versteckten Weg zum Leuchtturm bot.

M
aycroft, der zwischen Dalgliesh und Kate ging, erzählte detailliert von der Restaurierung des Leuchtturms. Dalgliesh fragte sich, ob der Verwalter so redselig war, um seine Verlegenheit zu überspielen, oder ob er versuchte, ihrem Spaziergang so etwas wie Normalität zu verleihen, als unterhielte er sich mit konventionelleren und weniger bedrohlichen Gästen.
»Der Leuchtturm ist nach dem berühmten Vorbild von Smeaton entstanden, das 1881 abgebaut und auf Plymouth Hoe wieder errichtet wurde, um ihm ein Denkmal zu setzen. Dieser Turm hier ist ebenso elegant und fast genauso hoch. Nach dem Bau des modernen Leuchtturms auf der Nordwestspitze der Insel wurde er ein wenig vernachlässigt, und während des Kriegs, als die Insel evakuiert wurde, zerstörte ein Brand die oberen drei Stockwerke. Danach blieb er praktisch als Ruine stehen. Erst einer unserer Gäste, der sich für Leuchttürme begeistert, spendete das Geld für die Restaurierung. Bei der Arbeit wurde besonders viel Aufmerksamkeit aufs Detail verwendet, und man orientierte sich weitestgehend an dem Zustand, in dem der Leuchtturm war, als er zuletzt befeuert wurde. Der neue Leuchtturm wird von Trinity House betrieben und ist vollautomatisch. Die Wartungsleute von Trinity House kommen regelmäßig her, um alles zu überprüfen.«

I
nzwischen hatten sie den Pfad verlassen und gingen auf dem Rundweg einen kleinen grasbewachsenen Hügel hoch und dann wieder hangabwärts zur Leuchtturmtür. Sie war aus massiver Eiche, hatte einen Zierknauf, der fast zu hoch war, um ihn greifen zu können, einen eisernen Riegel und ein Schlüsselloch. Dalgliesh registrierte, und wie er wusste, Kate und Benton-Smith ebenfalls, dass die Tür von jenseits des kleinen Hügels nicht zu erkennen war. Aus der Nähe war der Leuchtturm fast noch imposanter als aus der Ferne. Die leicht konkaven und glänzenden Wände, so hell als wären sie frisch gestrichen, ragten rund fünfzehn Meter in die Höhe bis zu dem eleganten Aufbau, der die Lichtquelle enthielt und dessen unterteilten Wände ein Dach trugen, das wie ein Mandarinhut aussah, mit einem runden Aufsatz und einer Wetterfahne obendrauf. Der gesamte Aufbau, der exzentrisch naiv und kindlich wirkte, war rot gestrichen und von einer Plattform mit Geländer umringt. Es gab vier schmale verglaste Fenster über der Tür, und die oberen beiden waren so klein und weit weg, dass sie wirkten wie Gucklöcher.

M
aycroft stieß die schwere Tür auf und trat beiseite, um Dalgliesh und den anderen den Vortritt zu lassen. Die kreisrunde Kammer im Erdgeschoss wurde offensichtlich als Lagerraum genutzt. An einer Seite waren etliche Klappstühle gestapelt, und an Pflöcken hingen Öljacken und hohe Wasserstiefel. Rechts von der Tür stand eine schwere Truhe und darüber waren sechs Haken mit Kletterseilen, von denen fünf sorgfältig aufgerollt waren. Das sechste, am letzten Haken, hing locker herab, und das baumelnde Ende war zu einer Schlinge mit nicht mehr als fünfzehn Zentimeter Durchmesser gebunden. Der Knoten war ein einfacher Palstek mit zwei halben Schlägen darüber, eine eigenartige Kombination. Jeder, der einen Palstek knüpfen konnte, hätte sich bestimmt darauf verlassen, dass er sich nicht löst. Und warum war die Schlinge nicht einfach mit einem einzigen Laufknoten an einem Ende des Seils befestigt worden? Die komplizierte Methode deutete darauf hin, dass da jemand entweder unerfahren im Umgang mit einem Seil gewesen war oder so verwirrt und aufgewühlt, dass er nicht mehr klar denken konnte.
Dalgliesh sagte: »Sehen die Schlinge und der Knoten so aus, wie gleich, nachdem die Leiche abgenommen worden war?«
Staveley antwortete ihm. »Noch genau so. Ich weiß, dass es irgendwie unbeholfen wirkte und ich mich gewundert habe, dass Oliver wusste, wie man einen Palstek knüpft.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.08.2006