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Ohne abzuwarten, dass sie einander vorgestellt wurden, sagte sie: »Ich bin Joanna Staveley. Guy kümmert sich um die Krankheiten, ich mich um Pflästerchen, Abführmittel und Plazebos. Die Praxis ist im zweiten Stock des Turms, falls Sie uns mal brauchen.«

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einer sagte etwas. Ein leises Scharren war zu hören, als die Männer am Tisch ihre Stühle nach hinten schoben, um sich zu erheben, es sich dann aber doch anders überlegten. Die schwere Mahagonitür war zu dick, als dass eventuelles Stimmengemurmel bis in die Halle ans Ohr der drei Ankömmlinge hätte dringen können, jetzt herrschte jedenfalls absolute Stille im Raum, eine Stille, von der man sich kaum vorstellen konnte, dass sie je durchbrochen worden war. Bis auf eins waren alle Fenster geschlossen, und wieder war Dalgliesh deutlich das Tosen des Meeres bewusst.

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aycroft hatte sich offensichtlich im Kopf zurechtgelegt, was er sagen wollte, und obgleich er nicht wirklich entspannt wirkte, ergriff er ruhig das Wort, selbstbewusst und mit mehr Autorität, als Dalgliesh es erwartet hatte. »Das sind Commander Dalgliesh von New Scotland Yard und seine Mitarbeiter Detective Inspector Miskin und Detective Sergeant Benton-Smith. Sie untersuchen die näheren Umstände des tragischen Todes von Mr. Oliver, und ich habe Commander Dalgliesh unsere volle Unterstützung zugesichert.« Er wandte sich an Dalgliesh. »Und jetzt möchte ich Ihnen meine Mitarbeiter vorstellen.« Er nickte in Richtung der beiden Frauen in den Ledersesseln. »Mrs. Burbridge ist unsere Hauswirtschafterin. Sie kümmert sich um alle häuslichen Belange, und Mrs. Plunkett ist unsere Köchin.«
Mrs. Plunkett war eine stämmige Frau mit runden Wangen und einem unscheinbaren, aber sympathischen Gesicht. Sie trug ihren weißen gestärkten Kittel zugeknöpft, wodurch er über ihrer ausladenden Figur spannte. Dalgliesh fragte sich, ob sie ihn angezogen hatte, um ihren Platz in der Inselhierarchie deutlich zu machen. Ihr dunkles Haar zeigte nur erste Spuren von Grau und war in üppigen Wellen nach hinten gekämmt, wo es von einer Spange gehalten wurde - eine Frisur, die Dalgliesh von Fotos aus den Dreißigerjahren kannte. Ihre Haltung wirkte gelassen und unbekümmert, und die kräftigen Hände - die Finger rund wie Würstchen, die Haut leicht gerötet - ruhten in ihrem weiten Schoß. Ihre Augen waren klein und sehr hell, dabei nicht unfreundlich, wie er fand, und fixierten ihn mit der routinierten Genauigkeit der Köchin, die Stärken und Schwächen einer potentiellen Küchenmagd taxierte.

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rs. Burbridge wirkte ganz wie die ungekrönte Königin des Hauses. Sie saß aufrecht in ihrem Sessel, als posiere sie für ein Porträt. Sie hatte einen kleinen, drallen Körper mit zarten Hand- und Fußgelenken. Ihre Hände, blass und mit unlackierten kurzen Nägeln, waren entspannt und verrieten keinerlei Nervosität. Das stahlgraue Haar war ordentlich geflochten und zu einem Knoten auf dem Kopf hochgesteckt, die wachen Augen, die Dalgliesh durch eine silberne Brille betrachteten, blickten eher fragend als forschend. Ihr Mund war großzügig und fest, und er ahnte, dass sie sich mühelos Autorität verschaffen konnte: Sie gehörte zu der Sorte Frauen, die ihre Position nicht dadurch behaupteten, dass sie darauf beharrten, sondern indem sie gar nicht erst auf die Idee kamen, diese könnte je in Frage gestellt werden.
Die beiden Damen blieben sitzen, auf dem Gesicht ein rücksichtsvolles und zurückhaltendes Lächeln.

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aycroft richtete seine Aufmerksamkeit auf die Gruppe am Tisch. »Jago Tamlyn haben Sie ja bereits kennen gelernt. Gleich neben Jago haben wir Adrian Boyde, meinen Sekretär, dann kommt Dan Padgett, den sie ebenfalls bereits getroffen haben, und vor Kopfende sitzt Millie Tranter. Millie hilft bei der Wäsche und in der Küche.«

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algliesh wollte die Leute nicht unnötig einschüchtern, machte sich jedoch keine Illusionen. Er wusste, dass jeder Versuch, sich ihnen gegenüber ganz zwanglos zu benehmen, lächerlich wirken musste. Er war nicht als Freund gekommen, und keine höfliche Beileidsbekundung über Nathan Olivers Tod, keine Plattitüde, dass es ihm Leid tue, ihnen Umstände zu bereiten, konnten diese unbequeme Wahrheit verschleiern. Er erwartete, später bei den Einzelvernehmungen mehr zu erfahren, aber falls jemand an diesem Morgen Oliver gesehen hatte, insbesondere auf dem Weg zum Leuchtturm, musste er darüber so früh wie möglich Bescheid wissen. Und diese Gruppenbefragung hatte einen weiteren Vorteil: Aussagen, die im Beisein der anderen gemacht wurden, konnten sogleich in Frage gestellt oder relativiert werden, wenn nicht durch Worte, dann durch Blicke. Vielleicht würden die Verdächtigen bei den Einzelvernehmungen gesprächiger sein, doch hier, wo alle zusammen waren, würden ihre Beziehungen untereinander leichter ans Tageslicht kommen. Und er musste, wenn irgend möglich, den exakten Zeitpunkt des Todes herausfinden. Er war davon überzeugt, dass Dr. Glenisters vorläufige Einschätzung sich als richtig erweisen würde: Oliver war an diesem Morgen um zirka acht Uhr gestorben. Allerdings konnte eine Spanne von zehn Minuten den Unterschied bedeuten zwischen einem wasserdichten Alibi und einem anfechtbaren, zwischen Gewissheit und Zweifel, zwischen Unschuld und Schuld.Er ergriff das Wort: »Einer meiner Mitarbeiter oder ich selbst wird sie alle heute oder morgen einzeln aufsuchen. Bitte lassen Sie es Mr. Maycroft wissen, wann immer Sie vorhaben, Combe Haus oder Ihre jeweilige Unterkunft zu verlassen. Aber jetzt, wo wir alle hier versammelt sind, frage ich Sie, ob einer von Ihnen Mr. Oliver gesehen hat, nachdem er gestern Abend gegen Viertel nach neun den Speisesaal verließ oder irgendwann heute im Laufe des Vormittags.«

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tille trat ein. Die Blicke der Befragten wanderten in der Runde umher, und zuerst sagte niemand etwas. Dann brach Mrs. Plunkett das Schweigen. »Ich hab ihn beim Dinner gesehen. Er ist fort, als ich gerade in den Speisesaal ging, um den Hauptgang abzuräumen. Ich hab wie üblich um halb zehn den Kaffee hier in der Bibliothek serviert, doch er ist nicht zurückgekommen. Beim Dinner hab ich ihn also das letzte Mal gesehen. Heute Morgen hatte ich in der Küche zu tun, ich musste das Frühstück für Mr. Maycroft machen und das Mittagessen vorbereiten.« Sie stockte und fügte dann hinzu. »Das keiner wollte, was jammerschade ist, es gab nämlich Lachs in Blätterteig. Hat keinen Sinn, den noch mal aufzuwärmen. Was für eine Verschwendung. Tut mir Leid, dass ich nicht weiter behilflich sein kann.« Sie sah zu Mrs. Burbridge hinüber, als wollte sie ihr ein Zeichen geben.

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rs. Burbridge reagierte. »Ich habe in meiner eigenen Wohnung zu Abend gegessen und danach bis Viertel nach zehn gelesen, dann bin ich noch mal rausgegangen, um vor dem Zubettgehen etwas frische Luft zu schnappen. Ich habe niemanden gesehen. Der Wind war stärker geworden und blies heftiger, als ich gedacht hatte, deshalb bin ich höchstens fünfzehn Minuten draußen geblieben. Heute Morgen war ich in meiner Wohnung, die meiste Zeit davon im Nähzimmer, bis Mr. Maycroft anrief und mir die Mitteilung machte, dass Mr. Oliver erhängt aufgefunden worden war.«
Kate fragte: »In welche Richtung sind Sie gestern Abend gegangen?«
»Zum Leuchtturm und wieder zurück, die obere Klippe entlang. Die Runde mache ich oft vor dem Schlafengehen. Wie gesagt, ich habe niemanden gesehen.«
Adrian Boydes Haltung war sehr beherrscht und ruhig. Er hatte die Schultern leicht hochgezogen und die Hände unter dem Tisch. Von den vieren, die bei ihm saßen und denen der Anblick von Olivers baumelndem Körper erspart geblieben war, machte er den erschüttertsten Eindruck. Sein Gesicht, aus dem jede Farbe gewichen war, glänzte vor Schweiß, eine einzelne dunkle Haarsträhne klebte ihm feucht an der Stirn, so theatralisch schwarz, als sei sie gefärbt.

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r hatte auf seine Hände gestarrt, aber jetzt hob er den Blick und schaute Dalgliesh unverwandt an. »Ich habe allein in meinem Cottage zu Abend gegessen und bin danach nicht mehr vor der Tür gewesen. Heute Morgen bin ich früh zur Arbeit - kurz vor acht. Ich bin quer über die Insel gelaufen, habe aber niemanden gesehen, bis Mr. Maycroft so gegen zwanzig nach neun ins Büro kam.«

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etzt richteten sich alle Blicke auf Dan Padgett. Seine blassen, angsterfüllten Augen huschten hin und her, als suche er die Bestätigung, dass er an der Reihe war. Er presste die Lippen aufeinander. Die anderen warteten.

Als er schließlich anhob zu reden, stieß er die Worte kurz und knapp und mit derart gezwungener Entschlossenheit hervor, dass sie peinlich aggressiv klangen. Dalgliesh war zu erfahren, um sogleich davon auszugehen, dass Angst gleichbedeutend mit Schuld war; häufig wurden gerade die Arglosesten im Zuge einer Mordermittlung deswegen besonders verängstigt. Doch ihn interessierte die Ursache dieser Furcht. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.08.2006