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Von Michael Robrecht

Diese
Woche

Vorbild Vertriebene


Flucht und Vertreibung haben tiefe seelische Spuren bei den Betroffenen hinterlassen. In der deutschen Geschichte gehört das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Flucht der Menschen nach Westen zu den dunklen Kapiteln, die auch nach 60 Jahren noch nicht vergessen sind. Im vergangenen Jahr haben wir des Kriegsendes vor genau sechs Jahrzehnten gedacht, dieses Jahr erinnern sich die Menschen verstärkt an die Themen Flucht, Vertreibung, Wiederaufbau.
In der Redaktion gehen in diesen Wochen immer wieder Einladungen zu Wiedersehenstreffen von Vertriebenen ein. Vor genau 60 Jahren sind besonders viele Menschen in den Kreis Höxter gekommen; Tausende wurden hier untergebracht und fanden auf Dauer eine neue Heimat. 1946 sind allein in Brakel auf dem Bahnhof mit sechs Sonderzügen 10 000 Flüchtlinge angekommen. Sie wurden in der Stadthalle alle einzeln registriert. Ältere Brakeler erinnern sich noch genau daran, wie Frauen, Kinder und alte Leute nach wochenlanger Fahrt traurig aus dem Zug stiegen.
Auch Bewohner des schlesischen Ortes Würgsdorf waren dabei, sie treffen sich zum 60-Jährigen im August bei Tilly Brechtken. Es ist eines dieser denkwürdigen Treffen im Kreis in diesen Tagen. Doch die Zahl derartiger Ostvertriebenenzusammenkünfte wird immer geringer. Die Deutschen, die einst im Osten wohnten, sterben schlichtweg aus. Nachdem der Tag der Heimat im Kreis Höxter nicht mehr mit einer Großveranstaltung begangen wird und auch die Stimme des Bundes der Vertriebenen immer mehr verstummt, wird es in Zukunft wohl bei einzelnen Veranstaltungen der Landsmannschaften - wie Pommern, Ostpreußen, Schlesier, Pommern oder Sudetendeutschen - bleiben, die noch daran erinnern, dass diese Landsleute zu Tausenden unerkannt unter uns leben.
Nach dem Abschluss der Vertreibungsmaßnahmen wurden 1950 in der Bundesrepublik Deutschland 8,1 Millionen Heimatvertriebene gezählt, in der DDR vier Millionen. 15 Millionen Deutsche sind aus ihrer Heimat vertrieben und deportiert worden. Zwischen zwei und drei Millionen Deutsche kamen bei dieser größten Vertreibung der Menschheit ums Leben. Die Bevölkerungszahl des Kreises Höxter hat durch die Flüchtlinge nach 1945 um Zehntausende zugenommen.
Bald nach Ende des Krieges formierten sich in Deutschland - und natürlich auch im Kreis Höxter - Gemeinschaften der Heimatvertriebenen. In der Regel bildete die gemeinsame Herkunft das verbindende und tragende Element. Es wurden Organisationen und Verbände gebildet (Landsmannschaften). In Deutschland gründete sich als Dachorganisation der Heimatvertriebenen der Bund der Vertriebenen. Er umfasst 21 Landsmannschaften, worunter die mitgliederstärksten die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die Schlesische Landsmannschaft sind. Ab Ende der 40-er Jahre fanden dann auch in jährlicher Folge Bundestreffen und Landes- und Kreistreffen der Vertriebenenverbände statt.
Von vielen Vertriebenen haben wir gelernt, wie man Unrecht erleiden kann, ohne zu verbittern. Wir können sehen, wie Menschen mutig neu beginnen, Arbeit finden, bauen, Familien gründen. Dennoch tragen viele ihr ganzes Leben Trauer über die verlorene Heimat mit sich. Lastenausgleich und ostdeutsche Straßennamen können darüber nicht hinwegtrösten. Man staunt über die Integrationsleistung der Nachkriegsgesellschaft. Bei allem heutigen Gejammer, sollten wir auf die Haltung und die Leistung der Vertriebenen schauen. Sie haben gezeigt, wie es aufwärts geht.

Artikel vom 29.07.2006