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Deutschlands
größter Kiosk
auf hoher See

Zollfrei einkaufen auf Helgoland

Von Sebastian Raabe
Helgoland (dpa). »Wir haben das Fahrwasser der Elbe verlassen, in einer halben Stunde kommt voraus Helgoland in Sicht. Genießen sie Ihren Flug über die See.« Zwei, drei Passagiere klatschen in die Hände, andere blättern im Bordmagazin, während 9000 PS den Katamaran mit fast 70 Kilometern in der Stunde über die Nordsee treiben.
Seit der Abschaffung der sogenannten Butterfahrten hat sich Helgoland zu einem Mekka von Duty-Free-Einkäufern entwickelt.

Hans Hiemer beißt in eine Bockwurst, schaufelt Kartoffelsalat auf seine Gabel. »Wissen Sie«, erzählt der Rentner, »ich war früher oft für länger auf der Insel. Bei schlechtem Wetter ist es grauenhaft langweilig. Aber in der Sonne: Spitze!«
Er sitzt in der ersten Reihe, direkt an den großen Panoramascheiben. Ab und an sucht er mit einem Feldstecher das Meer ab. Mal rauscht der »Halunder Jet« an einem Tanker vorbei, mal an einem kleinen Segelboot. Bis zu 580 Menschen bringt das Schiff täglich auf die knapp ein Quadratkilometer große Insel. Drei Stunden hin, drei Stunden dort, drei Stunden zurück. Von April bis Oktober. »Mal sehen, vielleicht eine Stange Zigaretten, Schnaps steht bei mir doch nur rum. Das Fernglas habe ich auch auf Helgoland erstanden, toll, oder?« 85,50 Euro hat sein Ticket in der ComfortClass-Lounge gekostet. »Teurer Spaß, aber die legen ja im Südhafen an, man muss nicht mit diesen Börtebooten ausgebootet werden.«
Friedrich Schriebert steht seit einer Stunde in einem kleinen Laden am Südhafen. Er knetet seine Hände, starrt ins Leere. Es ist Mai, der Himmel spannt sich weit und blau über den roten Felsen, die See liegt blank wie ein Tablett. »Warten müssen sie schon können hier.« Sieben Monate im Jahr verkauft der 51-Jährige Schnaps, Schokolade und Zigaretten, stapelt Kisten und Kartons. »Das ist irgendwie schon Deutschlands größter Kiosk«, murmelt er, richtet seine Brille. Draußen bröselt der Lack von der Holzwand, grüne Halme zwängen sich zwischen den Gehwegplatten nach oben.
Noch regt sich nichts auf der Insel, dabei ist es Mittag. »Vor den Schiffen ist es hier tot, absolut tot.« Nur während der Ferien, da sei hier richtig was los. »Also nicht wie auf Mallorca oder so«, sagt Schriebert und strafft sich, »aber doch ganz schön was los.« Ein paar Schritte die Straße rauf, drängen sich die Hummerbuden aneinander; die bunten, schmalen Holzhäuser beherbergen Andenkenläden und eine Dönerbude, manche gar Touristen. Auch hier blättert die Farbe.
Ein paar Dauergäste warten auf die Schnellfähre, schauen und beobachten. »Viel mehr können sie hier ja nicht tun«, sagt Schriebert und dreht ein paar Flaschen im Regal. Sein Laden ist der erste, den die Katamaran-Passagiere zu sehen bekommen. »Das ist schon ein Vorteil.« Angebot und Preise sind in allen Läden gleich. Das Zoll-Kartell ist organisiert. »Es können hier alle davon leben«, sagt er.
Der »Halunder Jet« hat fest gemacht, Gepäck wird abgeladen. Weiter draußen, auf der Binnenreede rasseln die Ankerketten: Die Seebäderschiffe sind da. Die Börteboote schwärmen aus, schaffen im Minutentakt Menschen an die Landungsbrücke. Erst Jahre nach dem Krieg wurde Helgoland wieder aufgebaut. Eng stehen die zweistöckigen 50er-Jahre-Bauten beieinander. In den Gassen locken Schilder in die Läden. Zollfreie Sehnsucht für sparsame Abenteurer. Es ist eine Expedition über die einzige Hochseeinsel der Republik.
Gegen Sansibar hatte der Kaiser sie einst bei den Engländern eingetauscht, wird erzählt. Auch wenn die Kolonialgeschichte in Wahrheit viel komplizierter ist, die Episode ist zu schön, um nicht erzählt zu werden. Heute gehört die Insel zum schleswig- holsteinischen Kreis Pinneberg und hat alles, was man auf dem offenen Meer braucht: Hafen, Flugplatz, Badeanstalt, Feuerwehr und ein Krankenhaus.
Gut sechzig Meter über dem Unterland sitzt Klara Zumbrunnen mit ihrer Freundin auf einer Holzbank und späht mit dem zollfrei erworbenen Fernglas nach Lummen, Tölpeln und Möwen. Die Vögel hocken in den roten Wänden der Steilküste. Von hier aus lässt sich das Oberland gut überblicken. Wie Konfetti verteilen sich die Menschen auf der dünnen grüne Decke, die das Gras über den Sandstein gespannt hat. »Ach, ich genieße die Natur«, erzählt die alte Dame aus der Schweiz, »aber ein Tag reicht wohl, ja. Bestimmt.«
Am Hafen machen sich am frühen Nachmittag die ersten Einkäufer wieder auf den Weg zur Landungsbrücke. Es ist heiß, der Wind macht Pause. Gegenüber der grauen Konzertmuschel am Hafen blickt Heinrich Hoffmann von Fallersleben finster auf den grau gepflasterten Platz. 1841 hatte er hier das Lied der Deutschen geschrieben und deutsche Treue, deutschen Wein und deutsche Frauen besungen. Nun stapfen an der Büste des Dichters Touristen vorbei, behängt mit vollen Tüten. Die Insel schlägt im Takt der Fahrpläne: 16.30 Uhr verlässt das letzte Schiff die Reede, dann herrscht Ruhe auf dem Felsen.
Vielleicht kann die Sehnsucht nach Helgoland nur verstehen, wer länger als einen Tag die Einsamkeit der Hochsee erträgt, wie der Dichter, der sich auf der Insel erst verwaist fühlte, dann Sehnsucht spürte. Nach der Insel, nach Deutschland, nach dem Meer. Friedrich Schriebert schaut am Südhafen dem Katamaran nach. Gleich wird er zusperren, das Geschäft ist gemacht. Seine Sehnsucht hat ein anderes Ziel. Wieder ein Tag weniger.

Artikel vom 09.09.2006