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Der tägliche WM-Einwurf, heute von André Best

Der neue Nationalstolz


Ach, sind sie nicht schön, diese niedlichen kleinen Deutschland-Fähnchen, die einige Fans an ihre Autos angebracht haben? Mal links, mal rechts - wenn der Deutsche fährt, wehen die Fahnen. Ausgerechnet an ihren Heiligtümern haben die Deutschen die Fähnchen zugelassen. Eine große Ehre - vor allem, weil sonst ja nur Waschanlagen und die Politur mit dem Deutschen Liebstes in Berührung kommen darf.
Gestern fuhr ich auf der B 68. Mich traf fast der Schlag. Staatsbesuch im Altkreis Halle. Bundespräsident Horst (wer?) Köhler kam mir entgegen. Ich sah nur ein dickes schwarzes Schiff: eine Fahne links, eine Fahne rechts und eine Fahne sogar noch auf dem Dach. Wer tatsächlich in der Staatskarosse saß, konnte ich nicht sehen - ich habe ihn für mich einfach Fähnchen-Horsti genannt und ihm freundlich zugewunken.
Deutschland im WM-Fieber. Überall sehen wir strahlende Gesichter, nicht nur von unseren ausländischen Besuchern, die ja bekanntlich zu Gast bei Freunden sind. Und mittendrin sind - man höre und staune - die Deutschen. Sie strahlen, hissen die Fähnchen und sind so optimistisch wie seit Jahren nicht mehr. Was ist da los? Wo sind die ganzen Miesepeter geblieben? Warum sind nur die wenigsten pessimistisch? Wo bleibt die schlechte Laune? Und die Weltuntergangsstimmung, die das Land zuletzt so erdrückte?
Auch rein fußballerisch sehen viele Deutsche nur noch bunt. Die Deutschen sind sogar richtig zufrieden, trotz der zwei Gegentore. »Wir werden Weltmeister«, sagen viele Menschen auf der Straße. Wir? Hatte ich da wirklich »wir« gehört?
Heute geht's weiter. »Wir« spielen ja wieder. »Wir« gegen Polen. »Unsere« Mannschaft gegen die Nachbarn. Hoffentlich hält der neue Nationalstolz noch etwas an.

Artikel vom 14.06.2006