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Von Rüdiger Kache

Paderborner
Perspektiven

Feiern wie die Weltmeister


Es soll doch tatsächlich Menschen geben, die sich noch nicht mit dem Fußball-WM-Fieber angesteckt haben. Ich persönlich kenne zwar niemanden - oder zumindest niemanden, der es ehrlich zugibt. Denn etwas Mut gehört schon dazu, angesichts zunehmender Zahlen von Deutschlandfahnen auf Autos und auf Balkonen, beim Anblick von flotten Bäckereiverkäuferinnen mit offiziell genehmigter WM-Mütze oder am Männerstammtisch nicht mit einzustimmen in die »Klinsi-, Klinsi-Euphorie«.
Die Sorge um Ballacks harte Wade ersetzt kurzzeitig die Debatte über Hartz IV oder Steuererhöhungen und das übergestreifte Nationaltrikot gibt in schweren Zeiten so ein wohliges Wir-Gefühl und macht Mut für die Zukunft. Ein bisschen 1954-er Aufbruchstimmung lässt grüßen. Die spürt man dieser Tage auch im Kreis Paderborn, wo insbesondere die Gastronomie auf bestem Wege ist, sich ein Stück vom WM-Kuchen abzuschneiden. Da gibt's WM-Pizza-Aktien, »Halbzeit-Schnitten« am Kuchentresen, selbst ganze Spielfelder aus Käsekuchen wurden schon gesichtet. Die »Viererkette« gibt's im Sonderpack und in vielen Büros wird schon der Mini-Fernseher installiert und es kursieren Wettlisten. Wohl dem, der einen fußballbegeisterten verständnisvollen Chef hat mit Sinn für den kollektiven Freudentaumel.
Grillwurst auf den Rost, Bier in den Kühlschrank - und fertig ist die Nachbarschafts- oder Straßenparty. Da kommt ein ganz neues Gemeinschaftsgefühl auf. Insofern ist die WM mehr als eine zusätzliche Jahreszeit neben Karneval, Schützenfestsaison oder Libori. »Wir sind Papst« titelte vor Jahresfrist eine Boulevard-Zeitung. Wer könnte da noch zweifeln, dass es am 9. Juli heißt: »Wir sind Weltmeister!«
Das Milliardengeschäft Fußball-WM beflügelt die Sinne und (hoffentlich) den Einzelhandel. Und wenn es die deutsche Nationalmannschaft erstmal schafft bis ins Halbfinale oder ins Endspiel, wird sicher noch mal kräftig nachgelegt.
Unabhängig von ebenso überzogenen wie saftigen Bußgeldandrohungen der FIFA bei missbräuchlichem Gebrauch der WM-Embleme auf Brötchentüten oder auf Werbeplakaten: Das größte Sportereignis auf deutschem Boden strahlt bis in den letzten Winkel der Republik und setzt viele gute Ideen frei, mit denen sich Händler und Gastwirte ihre Nische suchen können und für Kundenzufriedenheit sorgen.
Der Paderborner Franz-Stock-Platz ist ein solches Beispiel: Als die Stadt ankündigte, hier eine Videoleinwand zu installieren, um eine Open-Air-Stadion-Atmosphäre zu schaffen, gab's zuallererst Proteste und die Ängste der Anwohner wegen des zu erwartenden Lärmpegels. Dann machte die FIFA Zicken wegen der Rechte. Inzwischen sind dank des unermüdlichen Stadtpresseamtes und der Sponsoren - darunter das Westfälische Volksblatt - diese Hürden beseitigt. Selbst die GEMA-Gebühren wurden brav bezahlt, und die Riesenparty kann steigen.
Und der Handel schaut derweil noch abwartend-skeptisch auf den Nachbarn, ob der die vom Landtag freigegebenen Ladenschlusszeiten nach hinten verlängert. Man möchte flexibel reagieren, ohne vorzupreschen. Empfehlungen der Werbegemeinschaft gibt es nicht, die Entscheidung trifft jeder für sich. Vielleicht schaffen es die Klinsmann-Jungs ja, durch Traumtore die Kauflust der Paderborner anzustacheln. Und wenn es nicht klappt? Dann sollten wir wenigstens feiern wie die Weltmeister.

Artikel vom 10.06.2006