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eben ihren Preis wert und teuer.

Dem Nützlichkeitsdenken unserer Gesellschaft ist der Gedanke, daß etwas »Nutzloses« zutiefst sinnvoll sein kann, tatsächlich fremd geblieben. Zugleich wissen, spüren oder ahnen wir, die Sportfreunde allen anderen voran, dass ohne Spiel die Welt bitterarm wäre. Vielleicht deshalb hat sich der Breiten- und Mannschaftssport, erst recht der Fußballsport gerade in der Industriegesellschaft entwickelt. Und zwar von unten, im Volk, das sich so ein Ventil gegen den »Arbeitsfetischismus« (H. Lübbe) des Industriezeitalters verschaffte. Der französische Kultursoziologe Georges Bataille sieht im Spiel eine Gegenwelt zum Alltag der Arbeitswelt. Alle Produktion sei schließlich nur ein Mittel zum Zweck, das Spiel aber Zweck in sich selbst: »Das Spiel ist nun in gewisser Weise die Übertretung der Gesetze der Arbeit.«

Das Spiel - eine Gegenwelt zum Alltag: Spiel und Sport, zumal Mannschaftssport schaffen eine Eigenwelt, eine Gegenwelt zu dem, was außerhalb des Spielfelds immer gilt. Eine idealere Welt. Im Sport empören uns Fouls. In der Alltagswelt des Nutzens haben wir uns an Regelverstöße gewöhnt, an offene wie an versteckte. In Sachen Sport herrschen rege Diskussionen nicht nur um Doping, sondern auch um Amateur- oder Profisport, denn das Nützlichkeitsdenken drängt längst auch auf das Spielfeld - mit den gigantischen Geldsummen, die inzwischen hier umgesetzt werden.

Spiel setzt die normalen Lebensregeln außer Kraft. Es setzt seine eigenen Regeln. Es sondert sich vom sogenannten Ernst des Lebens ab. Schon zeitlich und räumlich, durch seinen Platz und seine Dauer. Das Spielfeld ist klar definiert und von der Alltagswelt abgegrenzt, ob Arena, Bühne, Spieltisch, Schachbrett oder Fußballfeld. Das Fußballspiel beginnt pünktlich und dauert neunzig Minuten. Neunzig Minuten ist das »gewöhnliche Leben« stillgelegt. Nach neunzig Minuten läuft das Leben sofort wieder nach den gewohnten Alltagsregeln. Wenigstens das Spielfeld muß von materiellen Interessen freigehalten werden. Mindestens neunzig Minuten lang. Und das gilt auch für die etwaige Spielverlängerung.

Bedroht ist heute diese Sphärentrennung zwischen Spielwelt und Alltagswelt schon. Von innen her durch die materiellen Zwecke und Interessen rund um den Profisport - bis hin zur Spielbestechung. Gewiss gibt es da auch noch höchst unsportliche Hooligan-Spektakel. Sie sind eher störende Begleiterscheinungen. Sie kann man auch sehen als - allerdings leider unbeherrschten - Ausdruck von Zuschauer-Leidenschaft, hinter der sich sogar eine handfeste Sehnsucht zu Wort meldet.

Sehnsucht wonach? Nach einer anderen Welt als der des reinen Nutzens, nach einer Welt mit Regeln ohne Zwang und die wir selbst bestimmen, frei. Es gibt kein Spiel, das nicht von Menschen erfunden wäre. Es ist müßig, nach dem Warum zu fragen. Spiel trägt seinen Sinn in sich. Offenbar ist der Spieltrieb eine Anlage, die dem Menschen von Hause aus schon mitgegeben ist.

Das eigentlich Erstaunliche in unserer Gesellschaft, die seit den 1960er Jahren so überempfindlich reagiert auf starren Gesetzesgehorsam, unumstößliche Ordnung, Autorität und Leistungsdruck, ist nun die völlig entgegengesetzte gesellschaftliche Empfindungslage, wenn es um Sport und Spiel geht, zumal um Fußball, sei es auf dem Spielfeld, auf der Tribüne oder am Fernseher: Die Aufregung über Leistungsschwächen, über Fouls oder andere Regelverstöße beherrschen die Stammtische der Nation.

»Das Spiel fordert unbedingte Ordnung«, schreibt Huizinga. Und der französische Schriftsteller
Paul Valéry: »Gegenüber den Regeln eines Spiels ist kein Skeptizismus möglich. (...) Sobald die Regeln übertreten werden, stürzt die Spielwelt zusammen. (...) Die Pfeife des Schiedsrichters hebt den Bann auf und setzt die gewöhnliche (Spiel-)Welt für einen Augenblick wieder in Gang.« Falschspieler gelten allgemein als Spielverderber. Es liegt also keineswegs fern, aus der Faszination des Spiels auf eine allgemein menschliche Sehnsucht nach Regeln zu schließen, die jedermann beim Spiel für unverzichtbar hält: Wettkampf, Fairness, Leistungswille, Kameradschaft, Freundschaft, Mannschaftsgeist, Respekt vor Konkurrenten oder Gegnern.

Ist eine solche Sehnsucht so tief gegründet, sind Leistungsfeindlichkeit, Schummeln, Starallüren damit schon entlarvt: als bloße Zeiterscheinung oder Ideologie, als Störenfriede, als Spielverderber. Um die Durchsetzungsfähigkeit der genannten Regeln und Tugenden auch im »normalen Leben« brauchen wir uns dann keine sehr großen Sorgen zu machen.

Hier drängt sich die Frage auf: Gibt es neben dem Spiel noch anderes menschliches Tun, das sich gegen die Regeln bloßer Nützlichkeit absetzt? Man mag zunächst an die Feier und den Schutz des Sonntags denken. Johan Huizinga schlägt hier tatsächlich eine Brücke vom Spiel zum religiösen Kult. Immerhin wurzeln ja unsere olympischen Spiele in den sportlichen Wettkämpfen, die im altgriechischen Olympia den Göttern gewidmet waren.

»Eine Fußballbegeisterung, die an quasi-religiöse Ekstase heranreicht, weckt Zweifel daran, daß unsere Gesellschaft einseitig vom Nützlichkeitsdenken besessen ist.«
Noch überraschender ist seine Feststellung, dass in allen Religionen nicht nur die Orte kultischer Verehrung von der Alltagswelt auch räumlich abgegrenzt waren und sind, ob es sich nun um »heilige Bezirke«, um Tempel, um Kirchen oder um Moscheen handelt. Sie durften und dürfen nicht durch andere Aktivitäten profaniert werden. Ebenso haben die Kulthandlungen ihren geregelten Verlauf und ihre Dauer. Ort und Ritus heben schon äußerlich eine Sonderstellung im menschlichen Leben hervor. Im Ritus der Kulthandlungen gelten andere Gesetze als in der profanen Alltagswelt. Selbst heidnische Vorschriften zu Opferhandlungen - bis hin zu Menschenopfern - galten nur im ihnen vorbehaltenen »geweihten Bezirk« und bei Vollzug des vorgeschriebenen Opferritus. »Die frühe Gemeinschaft«, so Huizinga, »vollzieht ihre heiligen Handlungen, ihre Weihen, ihre Opfer und ihre Mysterien, in reinen Spielen im wahrsten Sinnes des Wortes.«

Wollte man den Vergleich von Kult und Spiel noch weiter ziehen, ließe sich die Frage stellen, ob nicht das Spiel auch heute Opfer einschließt oder zuläßt, die in der Alltagswelt auf jeden Fall verboten wären. Lebens- und Gesundheitsrisiken, wie sie hier und jetzt im Sport ganz üblich sind - beim Boxen Formel 1, Abfahrtslauf, auch beim Fußball, würde gewiß keine Berufsgenossenschaft am Arbeitsplatz hinnehmen.

Wie das Spiel müssen in einer Welt des reinen Nutzens erst recht auch Kult und Gottesdienst als nutzlos, überflüssig und Verschwendung erscheinen. Eine Fußballbegeisterung, die an quasi-religiöse Ekstase heranreicht, weckt Zweifel daran, daß unsere Gesellschaft einseitig vom Nützlichkeitsdenken besessen ist.

Artikel vom 10.06.2006