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Graskamp: »Klinsi holt Titel!«

Doch die Expertenrunde traut der deutschen Mannschaft nicht viel zu

Von Uwe Caspar
und Dirk Heidemann
Kreis Gütersloh (WB). Einmal werden wir noch wach - dann endlich beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland. Zum Höhepunkt des Sportjahres befragten wir die sechs Trainer unserer Ober-, Verbands- und Landesligisten.

Ein Teil seines Urlaubs geht für die WM drauf, denn SC Verls Trainer will möglichst alle Spiele zuhause mitnehmen und beschränkt sich deshalb auf eine Woche Sylt. »Das wird ein Riesending«, fiebert auch Mario Ermisch dem bald beginnenden Superspektakel entgegen. Ob das Event auch dem heimischen Amateurfußball einen Schub geben kann, das macht der SCV-Coach vor allen Dingen vom Abschneiden der Gastgeber abhängig. Den Sprung ins Finale traut der Verler trotz der täglich größer werdenden Euphorie den Deutschen nicht zu: »Da fehlt mir der Glaube.«
Dennoch ist Ermisch überzeugt, dass Jürgen Klinsmann der richtige Mann sei. »Er zeigt gute Ansätze und hat auch gute Ideen. Nur eines kritisiere ich bei Klinsi: Dass er in der Torwartfrage nicht ehrlich war.« Ebenso kann der Oberliga-Coach kaum nachvollziehen, dass der erfahrene Christian Wörns zu Hause bleiben musste: »Ich hätte lieber den Dortmunder statt Jens Nowotny mitgenommen.« Turnier-Favoriten sind für Mario Ermisch Brasiliens Sambakünstler: »Die können sich eigentlich nur selber schlagen.«
Als Beobachter für den Bund deutscher Fußball-Lehrer ist Dr. Jörg Weber (»Die Weltmeisterschaft wird ein riesiges Spektakel im Herzen Europas«) gleich bei zwei WM-Spielen vor Ort. Am Samstag schaut sich der Noch-Trainer des FC Gütersloh 2000 die Partie Trinidad/Tobago gegen Schweden an, am 22. Juni steht die Begegnung Japan gegen Brasilien auf Webers Stundenplan. »Wir analysieren alle 64 WM-Spiele. Ende Juli werden die Ergebnisse dann auf dem internationalen Trainerkongress in Hannover vorgestellt«, erklärt »der Doktor«, der der DFB-Elf das Viertelfinale zutraut, den Wolfsburger Mike Hanke jedoch zu Hause gelassen hätte: »Stattdessen hätte ich den künftigen Leverkusener Stefan Kießling nominiert. Webers Titelfavorit ist Argentinien: »Brasilien schafft es trotz der individuellen Klasse nicht. Sie werden an einem Gegner scheitern, der an diesem Tag einfach aggressiver sein wird.«
Mit »Ergebnis-Fußball zumindest bei den Gruppenspielen« rechnet SV Spexards Ex-Trainer Olaf Tödtmann. Der Erfolg heilige die Mittel, auf diese Weise sei ja Griechenland Europameister geworden. Kaum Chancen räumt Tödtmann, der sich aus Anlass der Weltmeisterschaft einen großen Flachbild-Fernseher zugelegt hat, der deutschen Vertretung ein: »Im Grunde ist das keine Mannschaft.« Dass Jürgen Klinsmann den Schalker Kevin Kuranyi ausbootete, diese Maßnahme hält der Nobilia-Mann für eine »Unverschämtheit von Klinsmann«.
WM-Qualität sieht Olaf Tödtmann nur im deutschen Mittelfeld: »Abwehr und Angriff haben leider kein internationales Spitzenformat.« Tödtmann ist auch Fan von Brasilien und Portugal: »Weil beide Teams einen tollen Fußball zeigen.« Dennoch ist der Titelverteidiger kein Topfavorit für Olaf Tödtmann: »Fünf bis sechs Teilnehmer haben eine Chance auf die begehrte Trophäe.«
SV Avenweddes Trainer Robert Purkhart tippt auf ein Finale Brasilien - Italien und traut nicht nur dem Außenseiter Ukraine eine Überraschung zu. »Gleich zehn können Weltmeister werden.« In den vergangenen Jahren mochte sich Purkhart mit dem deutschen Nationalteam nicht mehr identifizieren (»Berti Vogts hat mich vergrault«), doch jetzt »stehe ich mit zehn Millionen Bundestrainern voll hinter unserer Elf«.
Dass Kuranyi nicht dabei ist, findet »Robby« voll in Ordnung: »Sogar als Schalke-Fan muss ich zugeben, das Kevin außer Form war.« Genauso wichtig wie die WM selbst findet Purkhart die veränderte Stimmung im eigenen Land. »Mit der WM ist endlich wieder Optimismus eingezogen. Die wirtschaftlichen Probleme sind in den Hintergrund getreten«, registriert er einen Sinneswandel.
»Realistisch betrachtet ist für die deutsche Elf nicht viel drin«, glaubt Markus Graskamp. Dennoch lässt sich auch der Trainer von Victoria Clarholz von der allgemeinen Euphoriewelle tragen und wagt den Tipp: »Wir werden trotzdem Weltmeister, Klinsi holt den Titel!« Live vor Ort ist »Grassi« beim letzten Vorrundenspiel der Klinsmann-Truppe in Berlin gegen Ecuador, beim sechsten Achtelfinale in Köln sowie beim dritten Viertelfinale in Gelsenkirchen. Mit der Nominierung des deutschen WM-Kaders kann sich Graskamp im großen und ganzen anfreunden: »Ein Ernst, Kuranyi oder Owomoyela reißen uns auch nicht raus, wenn es nicht läuft.«
Bezüglich seines WM-Favoriten hat sich Jürgen Gessat bereits vor Wochen festgelegt. »Eindeutig die Niederlande. 1974 wurden sie in Deutschland Vize-Weltmeister, 1988 Europameister. Diesmal holen sie den Titel«, glaubt der Trainer des SC Wiedenbrück 2000, der der deutschen Mannschaft kaum etwas zutraut: »Ich spreche dem Team die sportliche Qualität ab. Es ist versäumt worden, nach dem Desaster bei der EM 2000 strukturell im Hinblick auf 2006 etwas aufzubauen. Aber natürlich kann aufgrund des Heimvorteils alles passieren.«
Als Achillesferse bei der deutschen Elf sieht Gessat die Abwehr. »Die ist so löchrig wie ein Schweizer Käse. Arne Friedrich ist ein Schwachpunkt und in der Innenverteidigung stehen Leute, die nicht mal eine komplette Bundesligasaison absolviert haben. Dafür wurde ein Manuel Friedrich gar nicht erst nominiert«, schüttelt der Erfolgscoach mit dem Kopf, der sich übrigens gar nicht erst um WM-Karten bemüht hat: »An diesem Kommerz habe ich mich nicht beteiligt. Dass so viele Karten den großen Unternehmen zugeschanzt wurden, halte ich für eine absolute Frechheit. Fußball ist schließlich immer noch ein Volkssport.«

Artikel vom 08.06.2006