10.06.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Fußball ist nicht nur auf dem Platz

Sport ist Entwicklung, wenn
man Erziehung daraus macht
Von Reinhard Backes


Ein Dorf im Hochland Guatemalas: eine Ansammlung von Hütten, etwa zwei Dutzend. Die schmale Straße, die zum Ort führt, ist nicht asphaltiert. Sie endet auf einem Platz. Jugendliche spielen hier Fußball, die meisten barfuss. Gleichfarbige Trikots oder Hosen haben sie nicht an. Jeder trägt einfach das, was er eben so auf dem Leib hat. Der Ball besteht aus zusammengewickelten Lumpen. Der Platz ist ziemlich holprig, nur fester Lehmboden. Aber das stört hier niemanden.

Die Szene aus Zentralamerika ließe sich so oder ähnlich auch im Norden und Süden Amerikas, in Afrika, Asien, Australien oder Europa beobachten, auch wenn die Bedingungen dennoch recht unterschiedlich sein dürften. Das Spiel auf dem Dorfplatz wird bei vielen Erwachsenen Erinnerungen wecken. Denn Fußball war ihnen in der Kindheit und Jugend das Wichtigste überhaupt. Das gilt auch heute noch, vor allem für Jungen. Zunehmend aber auch für Mädchen, wie der Deutsche Fußball-Bund (DFB) betont. Täglich wird irgendwo »gekickt«: Auf der Straße, auf Wiesen, Bolz- oder »richtigen« Fußballplätzen, im Verein oder in der Schule. Nicht so sehr im Sportunterricht, zumindest nicht in Deutschland, denn hier stehen ganz andere Sportarten im Vordergrund: Leichtathletik, Geräteturnen, Schwimmen, Basket- oder Volleyball. Die haben zwar auch ihren Reiz, aber eben nicht den dieses einzigartigen Spiels - Fußball.

Fußball ist durch nichts zu ersetzen. Denn Fußball kann überall gespielt werden. Für Fußball braucht man fast nichts, nur Mitspieler, Freunde, die diesen Zeitvertreib auch mögen. Und die findet man allerorten. Dem Objekt der Begierde, ob nun Ball oder Coladose, wird in möglichst jeder Pause hinterher gejagt. Auf dem Schulhof finden sich immer zwei Mannschaften zusammen. Oder man trifft sich nachmittags auf der Straße. Mit Schulranzen, Steinen oder sonst was lassen sich Tore markieren. Und immer hat irgendjemand »neÕ Pille« dabei. Selten einen echten Lederball, zumeist eine dieser kleinen Filzkugeln, die Tennisspieler so eindrucksvoll übers Netz bringen können. Sie passen in fast jede Tasche.

Weil ein Fußballspiel, zumal auf Asche oder Asphalt, an den Schuhen Spuren hinterlässt, sehen Mütter das allerdings gar nicht gern. Was Jugendliche allerdings wenig beeindruckt. Sie werden das Spiel nicht lassen. Man braucht sich auf Schulhöfen oder Bolzplätzen nur umzusehen. Auf Fragen wie: »Warum spielst du Fußball?« oder »Was bedeutet dir das Spiel?« sind die Antworten überdeutlich. Der 19jährige Markus Plitzko, Abiturient aus Sankt Augustin bei Bonn: »Für mich ist Fußball eigentlich existentiell. Ich verbinde mit diesem Sport unglaublich viel.« Und Shady Fayed, 17 Jahre jung, Schüler der Deutschen Schule in Kairo sagt: »Ich spiele Fußball seit ich geboren wurde. Das ist mein Leben!« Oder Benedict Pavelka, 17, Schüler aus Rönkhausen im Kreis Olpe: »Du wirst gefordert, du kannst was erreichen, Erfolg mit dem Team erleben. Wir haben zum Beispiel den Kreispokal gewonnen, eine Mannschaft geschlagen, die fünf Jahre lang keiner besiegt hat.«

Der DFB hat nach der Weltmeisterschaft 2002 eine neue Lust am alten Spiel erkannt: »Nach dem zweiten Platz bei den Titelkämpfen in Korea und Japan rennen die Kinder und Jugendlichen hierzulande zum Beispiel den Veranstaltern der Fußball-Ferien-Camps die Türen ein. Zwischen Flensburg und Passau wollen Jungen wie Mädchen ihren WM-Helden nacheifern.« Im WM-Jahr 2006 ist die Stimmung nicht anders. Sollte die Mission von Bundestrainer Jürgen Klinsmann gelingen und der Titel an den Gastgeber gehen, dürfte das dem Fußball hierzulande einen neuerlichen Schub geben.

Doch eigentlich braucht der den gar nicht. Schon jetzt kann diese Sportart mit eindrucksvollen Zahlen aufwarten. Denn nach den Worten von Dietrich Kurz, Sportwissenschaftler an der Universität Bielefeld, gibt es »kaum einen jungen Menschen, der in Deutschland aufwächst, ohne irgendwann einmal Fußball gespielt zu haben.« Seinen Untersuchungen von 2002 zufolge ist Fußball zum Beispiel in Brandenburg für die Hälfte aller jungen männlichen Vereinsmitglieder die Hauptsportart; in Nordrhein-Westfalen nennen 40 Prozent der im Verein organisierten Aktiven Fußball ihren Sport Nummer eins. Bei den Mädchen ist es anders: Nur fünf Prozent der jungen weiblichen Vereinsmitglieder bezeichnen sich als Fußballerinnen. Klar bevorzugt werden andere Vereinssportarten.

Dietrich Kurz weist noch auf einen anderen Sachverhalt hin: »Wir haben zwar gesehen, dass Fußball nach wie vor Männersache ist. Aber unter den Jungen und den jungen Männern bildet keine andere größere Sportart im Verein den sozialen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland so ausgewogen ab wie der Fußball. Nirgends ist das Übergewicht der Gymnasiasten so gering, nirgends der Anteil der Jungen aus nicht-deutschen Familien so hoch wie im Fußball.« Für den Sportwissenschaftler verfügt der Vereinsfußball damit über »ein einzigartiges soziales Kapital, ein einzigartiges Potential der sozialen Integration.«

Zahlen bestätigen dies: Ein Drittel aller in Deutschland aufgewachsenen Jungen hat während der Schulzeit in einem Verein gespielt - und zwar im Durchschnitt vier bis fünf Jahre lang. Sie gehören in dieser Zeit einer Mannschaft an, trainieren regelmäßig, spielen in einer Liga. Die Hälfte der jungen Vereinsfußballer trifft sich der Untersuchung zufolge mindestens dreimal wöchentlich zum gemeinsamen Training. Und: »Zwei Drittel aller Vereinsfußballer sind oder waren nicht nur Mitglieder einer Trainings- und Wettkampfgruppe, sondern haben während ihrer Zeit im Verein auch besondere Aufgaben wahrgenommen: Mannschaftsführer, Betreuer, Trainer, Schiedsrichter oder Jugendsprecher. »Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass für viele von ihnen der Fußball in ihrem Verein für einige Jahre ein Mittelpunkt ihres Lebens ist«, so der Bielefelder Sportwissenschaftler.

»Über den Sport werden Einstellungen vermittelt, die junge Menschen prägen können.«
»Freude am Spiel« ist eine der häufigsten Antworten von Schülern, fragt man, warum sie das Fußballspiel nicht lassen können. Es ist aber offenbar nicht allein die sportliche Betätigung, die sie reizt. Wer nachhakt, dem werden weitere Motive genannt: Freundschaft, Kameradschaft, Wettkampf und Leistung. Aber auch Umschreibungen wie »Man kann, was man kann, umsetzen« oder »Hier werde ich wirklich gefordert«. Zum Erfolg, so lernen die Jugendlichen, reichen die eigenen Fähigkeiten allein nicht aus. Die Mitspieler sind ebenso gefordert wie der Trainer; das Gesamt muss stimmen: »Die Jungs müssen gut sein, der Trainer muss

Artikel vom 10.06.2006