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Afghanistan: Bundeswehr muss noch wachsamer werden

Deutsche übernehmen heute das ISAF-Kommando im Norden des Landes

Von Can Merey
Masar-i-Scharif (dpa). Viereinhalb Jahre nach Beginn des Einsatzes am Hindukusch steht die Bundeswehr dort vor einer neuen Herausforderung: Heute übernimmt Deutschland das Kommando über die internationale Schutztruppe ISAF in ganz Nordafghanistan.
General Markus Kneip hält den Einsatz am Hindukusch noch länger als ein Jahrzehnt für notwendig.

Verglichen mit dem Süden, wo in der jüngsten Vergangenheit die schwersten Kämpfe seit dem Sturz der radikal-islamischen Taliban Ende 2001 tobten, ist die Situation im Norden vergleichsweise entspannt. Trotzdem ist die Lage auch am neuen deutschen Standort in Masar-i-Scharif nach Einschätzung der Bundeswehr »eindeutig nicht ruhig und nicht stabil«.
Die Sicherheitslage in ganz Afghanistan hat sich in den vergangenen Monaten deutlich verschärft, auch im Norden des Landes kommt es immer wieder zu Anschlägen - die auch gegen deutsche ISAF-Soldaten gerichtet sind. Vergangene Woche ging eine Sprengladung in der Provinz Kundus hoch, die so gewaltig war, dass sie einem Spürpanzer der Bundeswehr eine Achse abriss - verletzt oder getötet wurde niemand. Weniger glimpflich verlief ein Bombenanschlag in Masar-i-Scharif im vergangenen November. Damals wurde ein schwedischer Soldat der Schutztruppe tödlich verletzt.
»Insgesamt müssen wir sehr, sehr wachsam sein, vielleicht noch wachsamer als bisher«, sagt der künftige ISAF-Kommandeur für Nordafghanistan, der deutsche General Markus Kneip. Er wird künftig auch der nationale Befehlshaber der Bundeswehr in ganz Afghanistan sein, die seit Beginn der deutschen ISAF-Mission im Dezember 2001 bittere Opfer verzeichnen musste. 18 deutsche Soldaten kamen bei dem Einsatz ums Leben. Auch am neuen Standort, der das Camp Warehouse in der afghanischen Hauptstadt Kabul als wichtigste Basis ablöst, sind die potenziellen Bedrohungen mannigfaltig.
Die Provinz Balch mit ihrer Hauptstadt Masar-i-Scharif gehört zu den großen afghanischen Anbaugebieten von Schlafmohn, aus dem Heroin gewonnen wird. Nicht nur Drogenkriminalität, auch Warlords könnten die Truppe in Gefahr bringen: Anhänger von Mohammed Atta, derzeit Gouverneur von Balch, und Raschid Dostum, inzwischen Stabschef der Armee, lieferten sich nach dem Sturz der Taliban blutige Schlachten in der Region. Beide könnten noch heute je 10 000 Mann mobilisieren, sagt ein afghanischer Journalist in Masar-i-Scharif. »Die Milizen existieren noch, die Waffen sind nur versteckt.«
Zwar sind die Taliban und andere radikal-islamische Gruppen im Norden nicht so verbreitet und straff organisiert wie im Süden. Trotzdem verüben sie auch im Einsatzgebiet der Bundeswehr immer wieder Terroranschläge. Gefährlich könnte den Soldaten die Lage des neuen Camps am Fuße der Bergkette werden, nach der das Lager Marmal benannt wurde. Eine Standortwahl gab es nicht, da der Flughafen Masar-i-Scharifs integriert werden sollte. Auf zwei Quadratkilometern Fläche bietet das größte Feldlager der Bundeswehr außerhalb Deutschlands nun allerdings ein kaum zu verfehlendes Ziel. Die wenigen Kilometer zwischen dem Camp und den Höhenzügen »sind für eine Rakete keine Entfernung«, sagt ein Patrouillenführer.
Deshalb sollen die Soldaten im Camp besonders gut geschützt werden. Die Wohn- und Bürocontainer dort »sind annähernd so sicher wie ein Bunker«, versichert Oberstleutnant Reinhard Großkopf, der den Bau des Lagers leitet. Und General Kneip sagt: Das Camp Marmal sei »schon jetzt so sicher wie kein anderes Lager«. Er betont, die vielen Bedrohungen außerhalb der schützenden Lagermauern dürften nicht dazu führen, dass die Soldaten sich einigeln. Der Kontakt zur Bevölkerung dürfe nicht verloren gehen, denn letztlich böten die Sympathien der Afghanen der Bundeswehr den besten Schutz. »Das ist der eigentliche Spagat«, sagt der General.

Artikel vom 01.06.2006