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Schwalben mit »Rot« bestrafen

Weltklasse-Schiedsrichter und WM-Experte des ZDF: Urs Meier im großen WB-Interview

Halle (WB). Jahrelang tanzten die großen Fußball-Stars wie Ronaldinho, Beckham oder Ballack nach seiner Pfeife. Jetzt hingen 250 Zuhörer an seinen Lippen. Der ehemalige FIFA-Schiedsrichter Urs Meier hielt in der Kreissparkasse Halle einen Vortrag. Für das WESTFALEN-BLATT sprach Sören Voss vor der Veranstaltung mit dem 47-jährigen Schweizer, der während der WM als Experte für das ZDF am Ball ist.

Was zeichnet einen guten Schiedsrichter aus? Urs Meier: Es muss zunächst einmal eine Persönlichkeit sein, vor dem die Spieler Respekt haben. Dann muss er fair sein und auch ein bisschen über den Dingen schweben. Nicht zu vergessen ist die Ehrlichkeit. Ich hoffe, dass wir nach dem Hoyzer-Skandal in Deutschland und den Vorfällen in Italien kein Imageproblem bekommen. Man muss immer signalisieren, dass man nicht käuflich ist, nicht bestechlich.

Gerade in den unteren Klassen mangelt es an Unparteiischen. Wie überzeugen Sie einen Jugendlichen, zur Pfeife zu greifen?Urs Meier: Es ist eine erste Chance, Verantwortung zu übernehmen. Er muss zwischen den 22 Spielern vermitteln. So etwas stärkt den Charakter und ist eigentlich die beste Lebensschule, die man sich vorstellen kann. Man fängt meistens mit Jugendspielen an. Da sehen die Eltern, die vom Rand reinbrüllen, ihre Kinder schon im Nationalteam. Alle reden auf dich ein, das geht ins Herz. Wenn man sich als junger Schiedsrichter da durchsetzt, dann macht man das später auch.

Sie selber haben im September 2004 ihr letztes Spiel geleitet. Die internationale Grenze von 45 Jahren zwang Sie zum Aufhören. Ist diese Altersguillotine noch zeitgemäß?Urs Meier: Ein klares Nein. Als die Limits 1990 eingeführt wurden, waren die Schiedsrichter tatsächlich konditionell schwach. Aber mittlerweile sind auch sie Profisportler. Die laufen beim Cooper-Test in 12 Minuten locker mehr als 3000 Meter. Ich glaube, dass sich heute einfach die Verbände hinter dieser Regelung verstecken. Denn es ist natürlich leichter, einem Markus Merk im nächsten Jahr zu sagen »Du bist jetzt 45«, als ihm irgendwann mitzuteilen: »Deine Leistungen reichen nicht mehr aus.«

Bei der WM sind erstmals die schon auf internationaler Ebene getesteten Headsets im Einsatz, mit denen die Schiedsrichter untereinander kommunizieren können. Was versprechen Sie sich davon?Urs Meier: Sie erleichtern in erster Linie die Kommunikation. Was früher mit Zeichen nonverbal geregelt wurde, kommt jetzt direkt im Ohr an. Schiri und Assistenten können die Aktionen direkt kommentieren und noch sicherer auftreten.

Werden weitere technische Hilfsmittel kommen?Urs Meier: Der Chip im Ball wird sich durchsetzen, es hapert momentan aber noch an der technischen Umsetzung. Die letzten Tests haben keine hundertprozentige Sicherheit gegeben - und die muss gewährleistet sein. 90 Prozent reichen nicht. Wenn auf der Uhr des Schiedsrichters das Torsignal blinkt und der Ball war nicht drin - dann grüß' Gott. Mit einem funktionierenden Chip hätte es die Diskussionen um das Wembley-Tor nicht gegeben. Besonders bei Weitschüssen sind Assistent und Schiedsrichter naturgemäß zu weit von der Torlinie entfernt. In solchen Situationen wäre eine Hilfe sinnvoll.

Und der Videobeweis bei strittigen Handspielen, Fouls oder anderen Szenen? Urs Meier: Davon halte ich nichts. Bilder können manipuliert werden, wie zuletzt beim Spiel Türkei gegen die Schweiz als ein Tritt in der Live-Ausstrahlung zu sehen war, aber in den Wiederholungen immer herausgeschnitten wurde. Weiterhin muss man sich fragen, ob die 20 oder mehr Kameras die Szene eindeutig wiedergeben. Der Videobeweis hilft bei Fouls oder Handspielen nichts, weil die Zeitlupen Geschwindigkeit und Absicht nicht wiedergeben. Außerdem lebt der Fußball von Emotionen und von einem schnellen Spielfluss. Und wie würden die Fans bei einer mehrminütigen Unterbrechung reagieren? Keine schöne Aufgabe für den Sicherheitsdienst.

Apropos Sicherheit. Sie haben nach dem EM-Spiel Portugal gegen England wegen eines nicht gegebenen Tores Morddrohungen erhalten. Ihr Heimatdorf in der Schweiz wurde von englischen Medien belagert. Sind die Wogen wieder geglättet?Urs Meier: Nach einem Foul am Torwart hat das Tor zu Recht nicht gezählt. Im letzten Jahr gab es beim englischen Pokalfinale ein versöhnliches Treffen mit der britischen Öffentlichkeit.

Sind internationale Spiele eigentlich einfacher zu leiten?Urs Meier: Ein klares Ja! Umso höher sie spielen, umso anders ist die Einstellung zum Fußball. So gab es bei der letzten WM keine direkte Rote Karte wegen groben Foulspiels. Die Spieler wissen, dass sie im Fokus der Welt stehen. Das ist in den Ligen in Deutschland, Frankreich oder der Schweiz anders. Da müssen die Schiedsrichter engere Leitplanken setzen, weil der Spielraum sonst schamlos ausgenutzt wird. Denn auf niedrigerem Niveau versuchen die Spieler außerdem ihre Defizite durch Fouls zu kompensieren.

In Deutschland nehmen aber auch Schwalben und offensichtliche Provokationen zu. Müsste man härter durchgreifen? Urs Meier: Vielleicht sollte man auch Schwalben mit direkten Roten Karten bestrafen. Ein Beispiel: Wenn der Stürmer sich fallen lässt, hat er die Möglichkeit auf einen Elfmeter und einen Platzverweis für seinen Gegenspieler. Er riskiert aber nur eine Verwarnung. Das steht in keinem Verhältnis.

Zum Abschluss noch ein Tipp: Welche Teams stehen am 9. Juli in Berlin im Endspiel? Und wer darf als 23. Mann auflaufen? Urs Meier: Markus Merk hat gute Chancen - natürlich nur, wenn Deutschland nicht ins Finale kommt. Andere Kandidaten wären der Kolumbianer Ruiz oder der Slowake Michel. Bei den Mannschaften setze ich auf die Europäer. Italien als Topfavorit, vielleicht auch Deutschland oder Holland. Aber Geld würde ich nicht drauf setzen. Anders als bei meinen Entscheidungen auf dem Platz habe ich mit meinen Tipps - zuletzt habe ich 2002 auf Argentinien oder Frankreich gesetzt - zu oft völlig daneben gelegen.

Artikel vom 31.05.2006