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Klartext über Fehler in der Europa-Politik

Offene Worte von Altkanzler Helmut Kohl bei Management-Tagung von Nagel in Versmold

Von Stefan Küppers
Versmold (WB). Große Politiker müssen wohl erst einige Jahre im Ruhestand sein, um weitgehend befreit von politischen Rücksichten Klartext reden zu können. Altkanzler Dr. Helmut Kohl sprach am Freitagabend im Rahmen der Managementtagung des Logistikunternehmens Nagel in Versmold über europäische Themen in einer Offenheit, wie sie wohl manchen Zuhörer überraschte.

Als Kohls Gesprächspartner auf dem Podium fungierte einen der angesehensten deutschen Journalisten für Außenpolitik, der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Günter Nonnenmacher. Auf dessen kenntnisreiche Fragen antwortete Kohl gerne und ausführlich.
Auf die Frage, ob sich die EU nicht in einer besonders schweren und grundlegenden Krise befinde, verwies Kohl auf das Krisengerede der vergangenen Jahrzehnte. Schon zu Beginn seiner Kanzlerschaft in 1982 sei von »Eurosklerose« die Rede gewesen. Er habe immer wieder gehört »Es geht nicht«, auch bei der Einführung des Euro. Und bei einer Volksabstimmung wären gewiss 80 Prozent der Deutschen gegen die Abschaffung der D-Mark gewesen, so Kohl. Doch man müsse ja nur auf das Unternehmen Nagel blicken, um Gewinner der Eurozone zu sehen. Kohl räumte ein hohes europäisches Tempo in den Jahren 1985 bis '95 ein: »Die Panzer sind vorneweg gefahren und die Infantrie kam nicht nach. Aber ohne dieses Tempo hätten wir nichts erreicht.«
Gerade auch in Bezug auf die Osterweiterung seien ihm die Risiken immer klar gewesen, gestand Kohl. »Doch hätten wir den Polen und Ungarn sagen sollen, ihr müsst noch warten, weil wir im Westen unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben«, betonte der Altkanzler, dass in der Osterweiterung eben auch eine moralische Position zu vertreten gewesen sei. Er habe ja auch nicht auf die Stimmen gehört, die die deutsche Einheit verzögern wollten.
Für »völlig ausgeschlossen« hingegen hält es Kohl, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird. Das seien gute Freunde, aber mit anderer Kultur. Im Grunde sei die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden doch gescheitert, weil indirekt gegen die Aufnahme der Türkei abgestimmt worden sei. Kohl: »Es war ein Fehler, eine Verfassung schon zu diesem Zeitpunkt abstimmen zu lassen. Die EU hat vorher nicht unter dem Fehlen einer Verfassung gelitten und tut es jetzt auch nicht.« Kohl mahnte Deutschland zu einem bescheidenen Auftreten in Europa. Nur so könne man erfolgreich sein. Francois Mitterand, der französische Staatspräsident, habe einmal zu ihm gesagt: »Ihr ward und ihr bleibt die Nummer Eins, aber jetzt müsst ihr großzügig sein.«
Auf die Sorgen wegen des verschärften Wettbewerbs in Europa angesprochen, verwies Kohl auf die großen Linien der deutschen Geschichte. »Erstmals sind wir nur von Freunden und Partnern umgeben.« Deutschland müsse seine Hausaufgaben machen und auch Opfer bringen. Aber in der Güterabwägung profitiere Deutschland von der Union. Als »Quatsch« bezeichnete Kohl in diesem Zusammenhang die Kritik des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac an den niedrigen Steuersätzen der Slowakei. »Die Slowaken sind ein Wagnis eingegangen, und darüber habe ich mich gefreut.«
Angesprochen auf die neue Rolle von Altkanzler Schröder als Aufsichtsratchef von »Gazprom«, der deutsch-russischen Gaspipeline durch die Ostsee, kritisierte Kohl die »Kurzsichtigkeit«, mit der Schröder das Amt übernommen habe. Für diese Aufgabe brauche Schröder auch eine positive Resonanz zuhause, die er durch die kriitische Diskussion zum Teil verloren habe. Im übrigen hält Kohl es für einen Fehler, dass Polen an dem Geschäft nicht beteiligt wurde. Die Polen hätten eine uralte Angst, dass sich Russen und Deutsche auf ihre Kosten einigen. »Ich hätte das nicht bei Nacht und Nebel gemacht.«
Schlussendlich verlor er noch ein Wort zur Großen Koalition in Berlin. Die werde vier Jahre und keinen Tag länger dauern. Aber beide Parteien müssten wissen, dass es nicht gelingen werde, dem jeweils anderen die Schuld für eventuelle Misserfolge in die Schuhe zu schieben.

Artikel vom 22.05.2006