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Die beiden gingen zu einem Ball und alberten dann mit einer Horde Iren im Zwischendeck herum. Als nach einer Weile der RigbertÕs ausging, machte ich mit dem HobsonÕs aus dem Kühlschrank weiter.
Ich bezweifelte, dass Honor Blackman nur wenige Stunden, nachdem sie jemanden kennen gelernt hatte, diesem Jemand erlaubt hätte, sie nackt zu malen. Und sicher wäre sie ihm nicht auf dem Rücksitz eines Autos zu Willen gewesen - auf dem Rücksitz eines Autos, ich bitte Sie, auf dem teuersten Schiff der Menschheitsgeschichte É
»Ich hab gedacht, da kommt ein Eisberg drin vor«, sagte ich.
Laura weinte stumm in sich hinein. Frank hustete verlegen und mied meinen Blick.
Das verfluchte Schiff weigerte sich drei volle Stunden lang unterzugehen. Als es schließlich doch unterging, war ich so traumatisiert, dass mich nicht mal mehr der langsame Tod von Plattschnauze trösten konnte. Der Dialog, die Schauspieler, die ungeheure Leere des ganzen Unternehmens - ging das heutzutage als Kino durch? Ich kam mir wie vergewaltigt vor, vergewaltigt von einem Heer Steuerberater.

K
raftlos vor Kummer lag Laura weinend in meinem Schoß. Frank schaute stumpf auf den Abspann, über dem als Gnadenstoß eine oder mehrere Katzen ein würgendes Gewimmer des Inhalts »My Heart Will Go On« von sich gaben - eine Ansicht, der ich in jenem Augenblick nicht beipflichten konnte.
Es dauerte einige Minuten, bis ich wieder so weit bei Kräften war, dass ich sprechen konnte. »Frank«, sagte ich matt. »Ich geh jetzt schlafen.«
»Kein Problem«, sagte Frank.
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Aber meine Augen können jetzt nichts mehr ertragen.«
»Schon gut, Charlie«, sagte Frank freundlich. »Versteh ich doch.«
»Was ist mit É?« Ich nickte in Richtung des zerstörten Etwas, das mir die Hosen vollschluchzte.
»Mach dir keine Sorgen, Charlie, ich kümmer mich drum.«
»Danke, mein Alter.« Ich drückte schwach seinen Arm. »Danke.«
Ich wand mich aus der Umklammerung, ging in mein Zimmer und legte mich im Dunkeln nieder. Auf Schlaf konnte ich jedoch kaum hoffen. Die tödliche Wirkung des schauerlichen Films hatte die mich umtreibenden Ängste bis zur Raserei aufgepeitscht und zudem alte, schlummernde Ängste wieder auflodern lassen: Zusammen mit den gespenstischen Mächten des RigbertÕs attackierten sie mich und stießen wie Fledermäuse mit flatternden Flügeln von den sich drehenden Wänden auf mich herab. Ich schlug die Hände vors Gesicht und kauerte mich am Kopfende der Matratze zusammen. Visionen von Verderben und Verfall peinigten mich: von Harry, der an den glänzenden Knöpfen seiner Weste herumfingerte; von großen Krähen, die auf den Kaminen des Hauses hockten; von Bel, die auf dem hilflos treibenden Golemschiff gefangen war, umzingelt von Pappmachémenschen, die tote Verse rezitierten und zu Staub zu zerfielen, sobald der Eisberg in Sicht kam É Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, den Gedanken, dass sie allein dort war, ganz allein.Und so - obwohl ich wusste, dass ich es am Morgen bereuen würde - griff ich nach dem, was mir in meiner Verzweiflung als der einzige Rettungsanker erschien, der mir noch blieb: Ich ging zum Telefon und wählte MacGillycuddys Nummer.

E
s war schon weit nach Mitternacht, und die Stimme, die sich schließlich am anderen Ende der Leitung meldete, klang ganz und gar nicht erfreut über die Störung. »Wer ist da? C, sind Sie das?«
»Verdammt, MacGillycuddy, ich bin nicht in der Stimmung für ihre Spielchen. Ich hab Arbeit für Sie, falls Sie das im Terminplan ihres schleimigen Unternehmens noch unterbringen können.«
»Haben Sie getrunken?«, fragte MacGillyduddy tadelnd.
»Ja, habe ich. Wollen Sie mir jetzt zuhören oder nicht?«
Er gähnte. »Es geht doch nicht wieder um Frank, oder?«
»Natürlich nicht. Wenn es um Frank ginge, dann É Diesmal ist es was anderes, es geht um diesen Burschen Harry.«
MacGillycuddy gluckste. »Der knallt Ihre Schwester und klaut auch noch die Möbel, richtig?«

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ch fluchte stumm, wickelte mir die Telefonschnur um die Hand und zog fest an. »Diesmal ist es was anderes«, sagte ich noch einmal, wobei ich versuchte, mir meine Wut nicht anmerken zu lassen. »Bel ist É Ich mache mir Sorgen wegen Bel; ihr geht es nicht gut. Und ich glaube, dass dieser Harry was damit zu tun hat. Sie ist eine zarte Person, müssen Sie wissen. Egal, ich will, dass Sie ein Auge auf sie haben. Und auf ihn. Kriegen Sie raus, wer er ist und was er will. Und kein Rumgeeire diesmal. Behalten Sie die beiden im Auge und stellen Sie sicher, dass da keine krummen Sachen laufen.«
Aus dem Hörer kam ein Geräusch, dass sich anhörte, als lutschte MacGillycuddy an seinen Zähnen. Schließlich antwortete er. »Geht nicht«, sagte er.
»Wie, Ýgeht nichtÜ? Was soll das heißen? Warum gehtÕs nicht?«
»Vertraulich«, sagte MacGillycuddy.
Ich taumelte. Ich hatte mit Widerspruch gerechnet. Sogar mit etwas Häme. Aber eine glatte Abfuhr hatte ich nicht vorausgesehen. Vertraulich: Wer hätte gedacht, dass dieses Wort so grauenvoll zuschlagen konnte? Vertraulich: Das hieß, was für dunkle Ränke auch immer geschmiedet wurden in Amaurot, MacGillycuddy steckte bis zum Hals mit drin. MacGillycuddy, dessen Auftreten in der jüngsten Geschichte des Hauses Amaurot ein Omen darstellte, dass nicht Unglück verheißender hätte sein können als jede schwarze Katze, jeder kreischende Pfau, jeder zerbrochene Spiegel É

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elbstredend stritt ich mit ihm, ich drohte und schmeichelte, ich bettelte, dass er mir wenigstens sagen möge, wer sein Auftraggeber sei. Er hielt dicht. Er sagte nur, dass es etwas sei, worüber ich mir keine Sorgen zu machen brauche, absolut nicht.
»Que sera, sera«, sagte er. »Wie es so schön in dem Lied heißt.«
»Was?«, flüsterte ich. »Was meinen Sie?«
»What will be will be, Mister Hythloday. What will be will be.« Dann lachte er, es klickte, und die Leitung war tot.

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ielleicht hatte er Recht. Vielleicht hatten sie alle Recht, und ich übertrieb maßlos, und alles war in bester Ordnung. Mit diesem Gedanken versuchte ich mich zu trösten. Andererseits hatte es auch damals, als sie ihre hysterischen Episoden durchmachte, laut Aussage der Ärzte nicht wirklich einen Grund dafür gegeben. Es handele sich um eine Phase, aus der sie herauswachsen würde, sagten sie, als sie sie am Bett festschnallten und die Dosis erhöhten. Für diejenigen, die am Bett saßen und ihr die Hand hielten, war das ein schwacher Trost - wenn sie sich in Krämpfen wand oder wild auf imaginäre Schreckgespenster einschlug oder stundenlang dalag und uns ohne eine Zeichen des Erkennens von der anderen Seite dessen, wohin sie sich zurückgezogen hatte, anschaute.
Lange Zeit saß ich so da, die Hand auf dem Mund, die Füße unter der Decke kalt wie zwei Eisblöcke. Und dann, gerade als mich die Verzweiflung gänzlich zu übermannen drohte, fielen mir wieder Lauras Worte ein. Vielleicht solltest du ein Stück schreiben. Sie war schon die Zweite, die das sagte. Bel hatte es sarkastisch gemeint, und Laura war eben Laura, sodass ich den Gedanken daran praktisch sofort verworfen hatte. Doch jetzt, als ich so darüber nachdachte, erschien mir der Vorschlag nicht völlig sinnlos.
Ich stolperte ins Wohnzimmer. Es war leer. Frank hatte Laura sicher ein Taxi gerufen. Ich setzte mich auf die verlassene Couch und schaute fragend in die Dunkelheit. Natürlich! Schreib ein Stück! Wieso war mir das nicht schon früher eingefallen? Wenn ich ein unterprivilegierter Künstler war, dann mussten sie mich wieder ins Haus lassen.

U
nd plötzlich kam mir der Gedanke, dass Bel den Vorschlag möglicherweise gar nicht sarkastisch gemeint hatte, dass es ihr auf einer irgendwie unterbewussten Ebene vielleicht ernst gewesen war, und dass sie mich deshalb darum bat, damit ich nach Amaurot zurückkehrte und Ordnung schaffte. Ich war wie im Fieber, richtete mich auf, spürte das noch tränenfeuchte Polster unter den Händen. Vielleicht war ich dazu ausersehen, dieses Stück zu schreiben, vielleicht war ich nur deshalb aus dem Haus vertrieben worden, damit ich dieses Stück schrieb. Ein Stück, das alles klarstellte, ein Stück, das Harrys lauwarme kleine Pantomine bourgeoiser Schuld hinwegfegte, eine Apologie von allem, was ich je gedacht oder getan hatte, eine Lobpreisung auf eine verloren gegangene Lebensart, ein Zornesschrei gegen das Verlöschen des Lichts! Schließlich würde ich das Wort doch noch erheben, würde ich es der Welt doch noch zeigen! Ich nahm einen Stift und ein Blatt Papier von dem für meine Monografie schon bereitgelegten Stapel. In der Wohnung herrschte vollkommene Stille, eine Stille, so straff gespannt und zitternd wie die Wasseroberfläche eines Sees. Als flüsterte das Universum selbst mir zu, Jetzt, jetzt, die Zeit ist reif, wir können nicht mehr länger warten, hob ich den Stift und schrieb mit einem beängstigenden Gespür für die historische Dimension in die obere rechte Ecke des Blattes ein Wort: Charles.
Ich lehnte mich zurück und betrachtete mein Werk. Charles.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.05.2006