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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Ralf Steiner


»Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?«

So beginnt das Lied 651 im Evangelischen Gesangbuch. Geschrieben hat es Schalom Ben-Chorin, der am 7. Mai 1999 in Jerusalem verstorben ist. Als Fritz Rosenthal war er 1913 in München zur Welt gekommen und in einer gebildeten jüdischen Kaufmannsfamilie aufgewachsen. Dort studierte er Germanistik und Religionswissenschaft. Nach wiederholten Verhaftungen und Misshandlungen durch Nazi-Schergen verließ er 1935 das Deutsche Reich und übersiedelte nach Jerusalem. Hier nahm er den Namen »Schalom Ben-Chorin« an, was »Friede, Sohn der Freiheit« bedeutet.
Er arbeitete als Journalist und Schriftsteller, gründete 1958 mit der »Har-El-Gemeinde« die erste Reformsynagoge in Israel. Ben-Chorin versuchte schon in den 1940er Jahren neue Wege des Dialogs zwischen Judentum und Christentum, beschrieb in der Buchtrilogie »Die Heimkehr« Jesus, Paulus und Maria in jüdischer Sicht. 1961 war er Mitbegründer der »Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen« beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Seine »geistige Heimat zwischen Jordan und Isar«, so sagte Ben-Chorin einmal, sei ein »besonderes Zweistromland«.
Als Student habe ich durch ihn die jüdischen Wurzeln des Christentums schätzen gelernt. Ich bin dankbar, diesem großen Brückenbauer des Dialogs zwischen Israel und Deutschland, zwischen Religionen und Kulturen, einige Male persönlich begegnet zu sein.
Sein Lied vom Mandelzweig kommt mir in jedem Frühjahr in den Sinn, wenn ich ein Mandelbäumchen blühen sehe. Es ist ein besonderes Symbol der Hoffnung, wenn man weiß, dass Ben-Chorin seine Zeilen im Kriegsjahr 1942 verfasst hat, als Millionen seiner Glaubensgeschwister ermordet wurden. Der Blick aus seinem Arbeitszimmer auf einen blühenden Mandelbaum hat ihm Hoffnung gegeben: »Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit. Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht. Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht. Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.«
Das Leben hat gesiegt: der Staat Israel wurde am 14. Mai 1948 als Heimat für Juden aus aller Welt gegründet, und Deutschland ist ein Land des Friedens geworden. Der Mandelbaum vor seinem Fenster, so erzählte mir der alte Ben-Chorin, musste übrigens eines Tages einem Parkplatz weichen. Aber, als wollte er dem Recht geben, nach einiger Zeit schlugen die Wurzeln am Rande des Asphalts wieder aus und ein neuer Mandelbaum wuchs empor, der heute noch dort steht. Ist das nicht ein Fingerzeig, wie das Leben siegt?
Solche Hoffnung gegen allen Augenschein wünsche ich Israel und Palästina in diesen Tagen, solche Hoffnung wünsche ich uns allen für unser Leben!

Ihr Pastor Ralf Steiner,
Exter

Artikel vom 06.05.2006