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Ein Spektakel: die erste Postrakete

Gedenkstein in Erinnerung an den Pionier Reinhold Tiling im Ochsenmoor gesetzt

Lembruch (voc). »Versetzen wir uns 75 Jahre zurück in die Vergangenheit. Es ist der 15. April 1931, und es ist gleich 15.30 Uhr. Das Spektakel kann beginnen.« Mit einem Sprung in die Vergangenheit begrüßte Lemfördes Samtgemeindebürgermeister Ewald Spreen die zahlreichen Schaulustigen, die am Ostersamstag in aller Frühe ins Ochsenmoor am Dümmer aufgebrochen waren, um mit der Enthüllung eines Erinnerungssteines an den Raketenpionier Reinhold Tiling zu erinnern.

Dieser hatte an genau jener Stelle - auf den Tag genau 75 Jahre zuvor - eine Flugschau mit selbstkonstruierten Postraketen veranstaltet, die damals großes Aufsehen erregte. Der Hintergrund: Tiling hatte die Vision, Post mithilfe seiner Raketen auf schnelle und sichere Weise an ihren Bestimmungsort zu bringen. Eine Idee, die sich nie richtig durchsetzte; wohl auch, weil die Reichspost kein Interesse an Tilings Projekt zeigte.
Der Testflug im Ochsenmoor vor 75 Jahren war dafür umso eindrucksvoller, wie Augenzeuge Karl Hekemeier schilderte: »Es gab ein wahnsinniges Getöse und eine große weiße Rauchwolke, und dann stieg die Postrakete in den Himmel. In einer Höhe zwischen 1500 und 2000 Metern öffneten sich dann die Flügel, und das Raketenflugzeug glitt langsam zurück zum Boden.«
Auch das war eine Besonderheit der Tilingschen Konstruktion: Um seine Raketenfahrzeuge transporttauglich zu machen, musste natürlich gewährleistet sein, dass die Post mitsamt der Rakete unbeschädigt landen konnte. Also konstruierte Reinhold Tiling seine Raketen so, dass durch die letzte Explosion in der Treibstoffkammer Flügel ausklappten und das Gefährt - einem Hubschrauber gleich - sanft zu Boden gleiten konnte.
Reinhold Tilings Sohn Klaus, der ebenfalls an der Enthüllung des Erinnerungssteines teilnahm, bedankte sich für die Ehrung und wies nachdrücklich auf den friedlichen Charakter der Forschungsarbeiten seines Vaters hin: »Auch wenn in jener Zeit viel Zeit und Geld in die Entwicklung von Kriegsraketen investiert wurde, haben sich die Arbeiten meines Vaters stets auf die Entwicklung von Raketen mit zivilem Zweck konzentriert - also eben den Transport von Post zum Beispiel. Sein Traum war es, auf diese Weise später einmal auch Menschen transportieren zu können.«
Die 188 Postkarten, die bei jenem Testflug zur Demonstration der Transporttauglichkeit der Rakete mitflogen, wurden anschließend mit normaler Post verschickt und sind heute in Sammlerkreisen wertvolle Stücke.
Der zweite Akt der Gedenkveranstaltung fand im Dümmer-Museum in Lembruch statt; in einem Film- und Diavortrag informierte Klaus Tiling - unter anderem auch anhand eines Raketenmodells, welches Martin Frauenheim gebaut hatte - über die Biografie seines Vaters.
Dieser war 1893 in Absberg (Franken) geboren worden; nachdem er später Elektrotechnik und Maschinenbau studiert hatte, war er im ersten Weltkrieg Pilot eines Kampfflugzeuges. Nach Ende des Krieges kam Reinhold Tiling nach Osnabrück, um dort am Aufbau eines zivilen Luftfahrtnetzes mitzuwirken. Darüber hinaus machte er sich auch überregional als Kunstflieger einen Namen. In dieser Zeit begann Tiling, sich seiner anderen großen Leidenschaft zu widmen: der Konstruktion von Raketen.
Gemeinsam mit seinem Freund und Förderer Baron von Ledebur begann er ab 1928 auf dessen Gut Arenshorst bei Osnabrück die Arbeiten an seinen Raketenkonstruktionen. Mit großem Erfolg: Eigens gedrehte Filmdokumentationen und die goldene Ehrenplakette der Stadt Osnabrück zeigen, welche Wertschätzung die Arbeit Tilings und von Ledeburs zu jener Zeit genossen. Zwei Jahre nach der historischen Flugvorführung im Ochsenmoor kam es dann aber zur Katastrophe: Während der Vorbereitung einer wichtigen Vorführung für die russische und die englische Regierung, die großes Interesse an Tilings Entwicklungen zeigten, explodierte am 10. Oktober 1933 eine große Menge Raketenpulver in Tilings Werkstatt auf Gut Arenshorst. Später fand man heraus, dass es wahrscheinlich beim Füllen einer Rakete eine Überhitzung gegeben hatte. Tiling und seine Mitarbeiter Angela Buddenböhmer und Friedrich Kuhr kamen bei diesem tragischen Unglück ums Leben. Auch an sie soll mit dem Gedenkstein erinnert werden.
Auch wenn Tilings Wirken auf diese Art und Weise ein Ende fand, haben seine Forschungsergebnisse auch heute noch großen Einfluss auf die Luft- und Raumfahrt, wie Klaus Tiling erläuterte: »Es gab damals zwei Raketentypen: Die Massivrakete, die über einen langen Zeitraum geringe Schubkraft hatte, und die Seelenrakete, die zwar eine stärkere Schubkraft hatte, aber diese nur kurzfristig entfalten konnte. Als Konsequenz ließ sich mein Vater die von ihm entwickelte Kammerrakete patentieren, die in mehrere Kammern unterteilt war und die Eigenschaften beider Modelle vereinte. Diese Bauweise wird auch heute noch verwandt. Wenn ich also im Fernsehen ein Space-Shuttle starten sehe, weiß ich: Das ist das Tiling-Prinzip.«
Und auch Ludwig Wiegmann, der in Vertretung von Landrat Stötzel ein Grußwort des Landkreises Diepholz sprach, unterstrich den Pioniergeist Tilings: »Tüftler und Forscher wie Reinhold Tiling wurden und werden gebraucht. Ohne Raketen hätten wir heute keine Raumstationen oder Fernsehsatelliten.«
Über Reinhold Tiling und seine Erfindungen können sich Interessierte in einer Ausstellung im Dümmer-Museum in Lembruch noch bis zum 30. April jeweils von Dienstag bis Sonntag informieren; des Weiteren soll demnächst an der historischen Stelle im Ochsenmoor zusätzlich zum Erinnerungsstein eine Gedenktafel angebracht werden.

Artikel vom 18.04.2006