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Georg Christoph
Lichtenberg

»Dank ist für kleine Seelen eine drückende Last, edlen Herzen aber ein Herzensbedürfnis.«

Leitartikel
»Wir« leben immer länger

Kassandra
liest kaum
Wilhelm Busch


Von Rolf Dressler
Ob Volksmund oder Dichterkunst: Von beiden lässt sich fürs Leben lernen. Immer und immer wieder - sofern wir Menschen es denn wollen.
Ein leuchtendes Beispiel: Wilhelm Busch, 1832 - 1908, geistiger Zeichner- und Texter-Vater der bösen Buben Max und Moritz und gleichwohl weit mehr noch als »nur« der Urvater des Comics. In seinen jüngeren Jahren reimte der lebensfrohe Weise aus dem niedersächsischen Örtchen Wiedensahl etwa auch dies:
»Und wird auch mal der Himmel grauer,
wer voll Vertrau'n die Welt besieht,
den freut es, wenn ein Regenschauer
mit Sturm und Blitz vorüberzieht.«
Wilhelm Busch dem Großen waren stolze 76 Jahre auf unserer Erde vergönnt, ein für damalige Verhältnisse wahrlich außergewöhnliches Alter der Kategorie Methusalem. Rein statistisch betrachtet war er seiner Zeit damit ein beträchtliches Stück voraus. Doch just seit der gerade 38-jährige Wilhelm Busch vor 135 Jahren in der Hochblüte seines Lebens stand, hat sich die sogenannte durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland sage und schreibe verdoppelt: auf komma-genau nun schon stolze 84,9 Jahre für 2004 geborene Jungen und sogar 90,4 Jahre für Mädchen desselben Geburtsjahrgangs; und die Tendenz zeigt weiter aufwärts.
Sofort aber blitzen die üblichen Bedenkenträger-Reflexe auf. Die »Demographie-Falle« werde noch schlimmer zuschnappen als je gemutmaßt, gedacht, befürchtet. Der gleichnamige »Faktor« einer angeblich ausschließlich bedrohlichen Alterung der Bevölkerung werfe Probleme über Probleme auf, die angeblich jedes vorstellbare Maß überstiegen.
Kurzum, Älterwerden ist angeblich vor allem Last, Last und nochmals Last Jedenfalls nach der Lesart all jener Politiker, Funktionäre und (Sozial-)Verbandslobbyisten, die natürlich zuallererst sich und ihre Organisationen als Feuerwehr und Retter in höchster Lebenserwartungnot wärmstens empfehlen möchten. Chancen und das Positive überhaupt werden ausgeblendet.
Kommt eigentlich niemandem in den Sinn, auch einmal seiner Dankbarkeit für das Geschenk Ausdruck zu geben, das uns Heutigen - und, wenn es gutgeht, auch den Künftigen - da zuteil wird?
Wo bleibt die Freude darüber, dass »wir« immer länger von dieser Welt sein dürfen, als unsere Vorfahren es sich je erträumen konnten? Aber so ist es eben, wo Kleinmut und Miesmeisterei die Oberhand haben.
Tröstlicher Großmut und aufmunternd heitere Lebenswärme finden sich allemal auch wieder bei Wilhelm Busch, dem famosen Menschenbeobachter:
»Als mir die Zeit entgegenkam,
erschien sie mir hübsch wundersam
und angenehm und lecker.
Sie ging vorüber, und, o weh!,
nun, da ich sie von hinten seh',
bemerk' ich ihren Höcker« ...
Aber welche Demographie-Kassandra 2006 liest schon Wilhelm Busch, 1832 - 1908?

Artikel vom 14.04.2006