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»Ich habe den Fahrrad-Gott angefleht«

Marcus Hoffmann aus Halle wandelt bei der Flandernrundfahrt auf den Spuren der Stars

Von Hans-Heinrich Sellmann
(Texte und Foto)
Halle (WB). 242 Kilometer gegen eisigen Wind, durch peitschenden Regen, über holprige Straßen mit dem ebenso legendären wie gefürchteten Kopfsteinpflaster.

Und erst jetzt türmt sie sich vor ihnen auf. Die Mauer von Geraardsbergen gehört zu den berühmt-berüchtigten Passagen der Radsport-Welt. Marcus Hoffmann hat sie nicht nur überquert, »ich bin sie hoch gestürmt« - vergangenes Wochenende bei der Amateurversion der Flandernrundfahrt.
Als der 42-Jährige an der Seite dreier Italiener von den begeisterten belgischen Zuschauern die 22 Prozent Steigung »heraufgebrüllt« wird, hat er sein Ziel jedoch schon aus den Augen verloren. Vorne machen andere den Sieg unter sich aus, haben speziell die Belgier ihre Erfahrung und den Heimvorteil ausgespielt. Nach insgesamt 260 Kilometern werden Marcus Hoff-mann im Ziel 35 Minuten auf die Spitzengruppe fehlen.
Morgens um sieben auf dem Marktplatz von Brügge ist Hoffmann guter Dinge. Gemeinsam mit Vereinskollege Achim Kaufmann vom LC Solbad Ravensberg hat er sich den ganzen Winter vorbereitet. Vom Grundlagentraining bis zum letzten Schliff, auch bei Eis und Schnee. Die Atmosphäre im Radsport verrückten Belgien tut ihr übriges: Einschreiben wie bei den Profis, fliegender Start, die Straßen sind auch für die Amateure zu 90 Prozent gesperrt. Foto-Kameras klicken, das belgische Fernsehen setzt neben Motorrädern sogar einen Hubschrauber ein. Wohlgemerkt, alles einen Tag bevor der Nationalheld Tom Boonen das Profi-Rennen gewinnt. »Da fühlst du dich, als wärst du selbst einer. Mir ist es eiskalt den Rücken runtergelaufen«, sagt Marcus Hoffmann.
»Vorne mitfahren« hatte er sich für seine Premiere bei einem der großen Klassiker vorgenommen. »Vorne mitfahren« lief jedoch nicht auch nur annähernd wie geplant. Im 200 Mann starken Vorderfeld der etwa 2100 Fahrer »habe ich mich gleich mit reingehängt und bin an die Grenzen gegangen. Das war natürlich Unsinn.« So fehlten bei Kilometer 70, als es erstmals über die Pflastersteine ging, schon die ersten Körner. »Ich habe nicht sofort begriffen, was abgeht, und gleich an Boden verloren.« Das Pech der anderen sollte anschließend sein Glück sein. Einem Massensturz entging Hoffmann nur mit einem waghalsigen Ritt durch den Straßengraben.
Urplötzlich fuhr der Haller tatsächlich in einer neunköpfigen Spitzengruppe vorne mit, wenn auch nicht ganz vorne. »Die waren zu stark. Ich habe nie Führungsarbeit gemacht, immer nur den Fahrrad-Gott angefleht, dass sie mich nicht abhängen.« Am zweiten der folgenden Helling (Kopfsteinpflaster-Passage) war es schließlich so weit. Hoffmann ließ abreißen und von der nächsten Gruppe aufsaugen: »Sonst wäre ich vielleicht überhaupt nicht ins Ziel gekommen.« So bezwang er mit dem italienischen Trio die Mauer, setzte sich bei einigen Positionskämpfen in Szene und kam nach acht Stunden und sieben Minuten in Meerbeke an. »Da war ich mir ganz sicher: nie wieder. Mittlerweile glaub' ich aber, das mach' ich noch einmal.« Die nächste »Ronde« steht natürlich erst 2007 auf dem Programm, aber für den August hat Marcus Hoff-mann schon ein Auge auf einen weiteren Klassiker geworfen: Lüttich-Bastogne-Lüttich.

Artikel vom 08.04.2006