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Dirigent der
großen Gefühle

Kamioka nahm seinen Abschied

Von Udo Stephan Köhne
Herford (HK). Geplant oder nicht: in jedem Fall war das letzte Programm, das Toshiyuki Kamioka als Chefdirigent der Nordwestdeutsche Philharmonie leitete, auf den quirligen Mann aus dem Fernen Osten bestens zugeschnitten.

Es war eine weitere Gelegenheit, des Dirigenten Arbeit an spätromantischer Musik zu studieren und damit eine weise Entscheidung: Genau genommen waren es doch gerade die Werke mit einem Hang zum träumerischen und sehnsuchtsvollen, denen der Japaner stets die schönsten Deutungen zu entlocken wusste.
Schließlich lief Kamioka immer dann zu guter Form auf, wenn das große Gefühl und die herzergreifende musikalische Geste gefragt waren. Bei diesen Gelegenheit verstand der NWD-Chef es, die Tempi zu dehnen, um etwa den in langsamen Sätzen geschilderten Schmerz noch heftiger ausfallen zu lassen, oder er zog die Zügel an, um das Satzfinale einen kleinen Hauch überschäumender als andere Dirigenten über die Rampe zu bringen. So gesehen war die Wahl von Antonin Dvorak und Jean Sibelius zum Abschied nur konsequent: An beiden konnte der Kamioka-Stil jetzt ein letztes Mal im Ostwestfälischen beobachtet werden.
Vor der Pause zunächst am h-moll-Konzert op.104 für Violoncello und Orchester von Antonin Dvorak. Bereits in der Orchestereinleitung fand sich wieder, was musikalisch anfechtbar ist, aber seine Wirkung nicht verfehlt: Kamioka nahm das Seitenthema tempomäßig zurück, hielt die Musik beinahe an, horchte dem »schönen« Gedanken bis ins Unendliche nach, um sich dann wieder an das Allegro-Zeitmaß des Satzes zu erinnern. Zweifellos faszinierende Momente, denen die Musiker der Nordwestdeutschen Philharmonie willig folgten.
Nüchterner und abgeklärter die Sicht des Solisten Christian Poltéra. Er spielte objektiver, ließ sich von den verschiedenen Themen nicht zu gravierenden Tempomodifikationen verleiten. Eine gleichfalls höchst sympathische Sicht auf das kolossale Dvorak-Konzert: dazu unangefochtene gestalterische Souveranität und ein geschmeidig-gesangvoller Celloton; Christian Poltéra war ein Interpret, der sich in den Orchesterfluten dieses sinfonisch konzipierten Konzerts zu behaupten wusste.
Überhaupt gab es viel produktive Spannung: wie man im langsamen Satz ins Fantasieren kam oder das Finale geradezu stürmisch begrüßte, das hatte großes Format. Das Publikum reagierte mit frenetischem Applaus, der Virtuose am Violoncello dankte mit einer Zugabe.
Nach der Pause folgte die zweite Sinfonie von Jean Sibelius: zweifellos auch ein Stück ganz nach dem Geschmack des scheidenden Chefdirigenten. Lange melodische Bögen müssen entfaltet und das tiefe Empfinden der finnischen Seele hervorgekehrt werden. Halten wir fest, dass es einer klanglich und technisch hoch motivierten Nordwestdeutschen Philharmonie gelang, Sibelius prachtvoll in Szene zu setzen. Kein Hindernis stellte dabei die rhythmisch etwas andere Themenerfindung finnischer Provenienz im ersten Satz dar. Sie wurde mit Überzeugungskraft umgesetzt.
Ein Ereignis dann der zweite Satz. Kamioka ließ die dynamischen und emotionalen Gegensätze heftig aufeinander prallen: der ergreifende Mittelpunkt des Werkes. Voller Elan das Scherzo (»Vivacissimo«), anrührend das Trio, unbändig im Drang nach Größe und Weite das Finale. Jetzt war der Melodienmagier am Pult gefragt. Und tatsächlich: Kamioka breitete den apotheotischen Schluss in seiner grandiosen Maßlosigkeit beinahe ungezügelt aus.
Entziehen konnte man sich dem kaum. Das Publikum feierte Kamioka mit »standing ovations«, und die Orchestermusiker hatten als Überraschung jeder einen Blumengruß bereit. Ein würdiges, auch ein rührendes Ende einer Amtszeit: der Chefdirigent als Blumensammler, der einzige Moment an diesem Abend, an dem Kamioka ein wenig hilflos wirkte.

Artikel vom 03.04.2006